Paul Graener – vergessen

In unserer politisch überkorrekten Zeit scheint es fast, als ob die Musiker vor dem Kriegsende nur aus einer Hand voll Vertriebener und Getöteter, eben „Entarteter“ (wie sie die Nazis bezeichneten), bestehen, die ab und zu hervorgeholt werden, um politisch opportun eben diese als repräsentative Opfer einer ganzen Epoche der Verfolgung zu ehren. Andere, wie Orff oder Egk, gehen gerade mal so durch, weil sie auch im Nachkriegs-Deutschland eine Rolle gespielt haben und damit arriviert sind. Aber was ist mit den gut gelittenen, „gearteten“ Komponisten der Vorkriegs-Zeit? Die werden nun ihrerseits geächtet, weil sich mit ihnen auch die immer noch problematische Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ verbindet. Gerade mal drei, vier wie Wagner-Régeny oder von Schillings kennt man noch. Aber die anderen? Wer kennt noch Paul Graener? Ist es nach rund 70 Jahren nicht an der Zeit, sich auch mit diesen „Unbekannten“ zu beschäftigen? G. H.

Wenn man beginnt, sich mit dem Komponisten Paul Graener (1892 -1944) näher zu beschäftigen, so wird schnell klar, dass man es mit einem jener exemplarischen Lebensläufe zu tun hat, die in einer Karriere im Nationalsozialismus enden. Die wichtigsten Eckdaten: Der gebürtige Berliner machte seit den 1890er Jahren beständig Karriere – Kapellmeisterposten in Berlin, Königsberg und Bremerhaven, von 1898 bis 1906 ist er als Musical Director am Royal Haymarkt Theatre in London angestellt, nach einer Station in Wien wird er 1911 Direktor des Salzburger Mozarteums, ab 1914 lebt er freischaffend in München und Dresden, 1920 wird er Nachfolger Max Regers als Professor für Komposition am Leipziger Konservatorium, ab 1924 findet man ihn wieder in München als freischaffenden Komponisten. 1930 kehrt er, der Berufung als Direktor an das Stern’sche Konservatorium folgend, nach Berlin zurück. Soweit so konsequent.

graener karteGraener hat nahezu alle Gattungen bedient. Seine elf Singspiele und Opern (von denen keine eingespielt vorliegt) verdienten einer gesonderten Betrachtung. ­– Graener tritt bereits in den zwanziger Jahren dem nationalsozialistischen Kampfbund für deutsche Kultur bei und wird 1933 Mitglied der NSDAP. Nach der Machtergreifung im Jahr 1933 übernahm er eine Reihe von offiziellen Funktionen und Ehrenämtern im nationalsozialistischen Kulturapparat. So wurde er u.a. 1934 als Nachfolger Wilhelm Furtwänglers zum Vizepräsidenten der Reichsmusikkammer ernannt, 1935 folgte er Richard Strauss als Leiter des Berufsstandes der Deutschen Komponisten. Beide ‚Rücktritte’ waren Reaktionen auf die Nationalsozialisten gewesen – Graener störte dies nicht.

reichmusiktage düsseldorf 1939 posterBekannt geworden ist ein bezeichnender Vorfall, der durch einen Bericht im Völkischen Beobachter, dem publizistischen Parteiorgan der NSDAP, überliefert ist: Als am 9. Februar 1933 im Rahmen eines Schülerkonzertes das Konzert für zwei Klaviere Trompete und Posaune des aus Schlesien stammenden Max Jarczyk (der später als Michael Jary bekannt werden sollte) gespielt wurde, stand Paul Graener auf und rief: „Dieses klägliche Gestammel wagt man Ihnen als deutsche Kunst an einer deutschen Hochschule für Musik zu bieten. Ich protestiere dagegen als deutscher Künstler.“ Dann verließ er mit sechs Kollegen den Saal. Paul Graener war zu diesem Zeitpunkt 61 Jahre alt. Es war zugleich ein Angriff auf die Lehrer Jarczyks: Franz Schreker, Paul Hindemith, Arnold Schönberg und Igor Strawinsky. Die Preußische Akademie der Künste, der er angehörte, betraute ihn ab April 1934, mit Meisterkursen für Komposition. Er wurde Nachfolger des vertriebenen Arnold Schönberg.

Der Buchautor und Graener-Forscher Knut Andreas ist Musikwissensaftler und Dirigent beim Sinfonieorchester Collegium musicum Potsdam/CCP

Der Buchautor und Graener-Forscher Knut Andreas ist Musikwissensaftler und Dirigent beim Sinfonieorchester Collegium musicum Potsdam/CCP

Vieles ließe sich noch sagen, es gibt seit einigen Jahren auch eine seriöse Forschung zu Graener Leben und Werk, deren wichtigster Autor Knut Andreas ist. Dieser hat 2008 unter dem Titel Zwischen Musik und Politik: Der Komponist Paul Graener (1872-1944) Mit Werkverzeichnis und umfangreichem Quellenverzeichnis eine Monographie vorgelegt. Knut Andreas ist auch Autor der informativen Beihefttexte einer beim Osnabrücker Label begonnenen Reihe mit Aufnahmen Paul Graeners. Knut Andreas ist darum bemüht, ein differenziertes Bild Graeners zu zeichnen, führt „freundschaftliche Kontakte zu jüdischen Künstlern und Verlegern“ an sowie die ­– freilich späte ­– Niederlegung von Ämtern. Überzeugend gerät für mich diese ‚Verteidigung’ allerdings nicht. Und die Musik Graener, sie spricht in jenen Jahren eine deutliche – eine ‚deutsche’ – Sprache.

graener cpo 2Der Komponist Paul Graener entpuppt sich beim Hören der bislang bei cpo erschienenen zwei CDs mit Orchesterwerken, die zwischen 1906 und 1939 entstanden, als Spätromantiker, der Einflüsse des Impressionismus aufgriff. Brahms, Bruckner, Elgar, Strauss, Ravel sind offenkundig Bezugsgrößen seines Kompositionsstils. Die NDR Radiophilharmonie aus Hannover spielt das stilistisch kundig im schön aufgefächerten Klangbild und unter der etwas eintönigen Leitung von Raritätenaltmeister Werner Andreas Albert. Die Bläser glänzen dabei mehr als die etwas anonymen Streicher. Auffällig wenig ist das dynamische Spektrum ausgereizt, hier vermisst man, gerade in den impressionistischen Werken, zarte Piani und Farbschattierungen. Graeners Musik klingt idyllisch, romantisch, übersichtlich. Wenn es einmal frech wird, dann immer im Rahmen bürgerlicher Musikkonventionen. Man begegnet Hornsignalen, sich lösenden Violinsoli und atmosphärisch aufgeladenen Streichertremolos ebenso wie sehnsüchtigen Oboenmelodien oder kecken Bläsereinwürfen. Gutes Handwerk, oft wirkungsvoll konzipiert, doch so richtig hängen bleiben will nichts. Die Imaginationskraft, die Zeitgenossen wie Reznicek oder gar Richard Strauss im Sinfonischen zu wecken vermochten, erreicht Graener selten. Einige der Werke waren einst viel gespielt, wie die Comedietta, ein knapp zehnminütiges Orchesterstück, wie es in den Zwanzigern Mode war und das bei Graener eigentlich erst in der letzten Minute so richtig zündet. Hier haben Komponisten wie Butting, Schreker, Toch u.a. wesentlich Attraktiveres und Originelleres geschaffen. Reichlich akademisch kommen die Variationen über ein russisches Volkslied von 1917 daher, in denen das Lied der Wolgaschlepper nach den Regeln der Kunst mit großem Orchester durchdekliniert wird. Ganz dem Impressionismus abgelauscht und irgendwo zwischen Debussy, Ravel und Franz Schmidt angesiedelt ist das Stimmungsstück Die Musik am Abend von 1914; mit weiten Flötenlinien, Streichertupfern und Hornseligkeit. Vergleichbares lässt sich auch über Aus dem Reiche des Pan sagen, dem im Tanz-Satz auch ein gemäßigter Richard Strauss Pate gestanden haben mag. Die 17-minütige Sinfonia breve von 1932 ist ein deutlich rückwärtsgewandtes Werk, das gut und gerne auch 50 Jahre früher hätte entstehen können. „Musik, die sich ihrer Wurzeln besinnt“, wie Knut Andreas es im Beiheft freundlich formuliert. Aus der Zeit heraus gesehen ist sie freilich als ein bewusster Gegenentwurf zu den Atonalen und Zwölftönern zu verstehen, deren Diffamierung durch die Nazis als ‚entartet’ bereits begonnen hatte. Noch deutlicher wird dies schon im Titel von Prinz Eugen, der edle Ritter – Variationen op.108, die Graener für die durch das Propagandaministerium initiierten Reichsmusiktage 1939 in Düsseldorf komponierte und die im Vorfeld von Goebbels Abschlussrede uraufgeführt wurden. Schlachten und Belagerungsverherrlichung als Subtext. Eine 16-minütige Widerlichkeit, die mit Trommelwirbel beginnt und sich in pathetischen Streicheraufschwüngen und Hörnerfülle, mit Harfenklängen und massierten Bläserapparat zum Hymnus steigert und in Fanfaren und Paukenwirbel mündet. ‚Deutsche’ Propagandamusik für das Dritte Reich, wie sie typischer nicht sein kann. Dieses Stück beendet die zweite Folge der Edition, die mit dem Trommelwirbel und fernen Trompetenrufen der gut halbstündigen d-Moll Sinfonie op 39 von 1912 begonnen hatte, die sich pompös und kraftvoll dahinschleppt und wie eine Bruckner-Sinfonie en miniature wirkt.

graener sterlingEine weitere CD mit sinfonischen Werken Paul Graeners ist seit 2012 beim Label Sterling lieferbar. Hier spielt das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera unter seinem damaligen schwedischen Chef Eric Sólen vier späte Werke des Komponisten: Die Wiener Sinfonie op. 110 (eine in die Zeit passende Huldigung an große Meister wie Mozart u.a., deutsch-österreichische Kunst) die Knappertsbusch 1941 zur Uraufführung brachte, das Turmwächterlied op. 107 von 1939 (erneut akademisch gehaltene Orchester-Variationen), das naive Flötenkonzert op.116 von 1944 (Graeners letztes Werk), sowie die Suite Die Flöte von Sanssouci op. 88 von 1930, Graeners wohl populärstes Orchesterstück, einst von Erich Kleiber, Furtwängler und Toscanini aufs Programm gesetzt. Neoklassizistisch, deutsch, lieblich – Assoziationen zu Menzels bekanntem Bild und Ufa-Kostümschinken huschen beim Hörer vorbei. Die Interpretationen aus Altenburg-Gera sind mindestens auf der Höhe der NDR Aufnahmen, vieles will hier differenzierter erscheinen. Die beiden Flötensolisten Andreas Knoop (op. 88) und Cornelia Grohmann (op.116) machen ihre Sache vorzüglich. Die Musik als solche freilich klingt älter, als sie ist. Das Vergessen der Musik Paul Graeners nach 1945 mag seine Ursache zunächst in der Beteiligung des Komponisten und Menschen Graener am Apparat, am System und an der Ideologie der Nationalsozialisten gehabt haben. Sechzig Jahre danach wird aber auch sehr deutlich, wie antiquiert, devot und nachschaffend, ja reaktionär diese handwerklich gut gemachten Kompositionen sind.

Moritz Schön

Paul Graener: Orchestral Works I – Comedietta, Op. 82 (1928) – Variationen über ein russisches Volkslied, Op. 55 (1917) – Musik am Abend, Op. 44 (1913) – Sinfonia breve, Op. 96 (1932) – NDR Radiophilharmonie Hannover, Werner Andreas Albert (cpo 777 447-2)

Paul Graener: Orchestral Works II – Symphony in D Minor, Op. 39, Schmied Schmerz (1912) – Aus dem Reiche des Pan Op. 22 (1906-20) – Variationen über Prinz Eugen, Op. 108 (1939) – NDR Radiophilharmonie Hannover, Werner Andreas Albert (cpo 777 679-2)

Paul Graener: Symphonie op.110 „Wiener“ (1941) – Suite op. 88 für Flöte & Orchester „Die Flöte von Sanssouci“ (1930) – Turmwächterlied op. 107 (1939) – Flötenkonzert op. 116 (1944) – Philharmonisches Orchester Altenburg-Gera, Eric Solen (Sterling CDS-1090-2)