Denkt man an die Kombination Schostakowitsch und Sanderling, wird man nach wie vor primär an die Einspielungen Kurt Sanderlings zurückdenken, der zwar keinen kompletten Zyklus, aber doch immerhin sechs der 15 Sinfonien für Berlin Classics eingespielt hat (es handelt sich um die Nummern 1, 5, 6, 8, 10 und 15). Sanderling senior, der 2011 einen Tag vor seinem 99. Geburtstag starb, hat nicht weniger als drei musikalische Söhne hinterlassen, deren jüngster, Michael, sich zunächst als Cellist einen Namen machte, eher er in die Fußstapfen seines Vaters trat und im Jahre 2000 auch als Dirigent debütierte. Seither legte Sanderling junior eine respektable Dirigentenkarriere hin, deren vorläufiger Höhepunkt die Berufung zum Chefdirigenten der Dresdner Philharmonie im Jahre 2010 war. Diese Position trat er 2011 als Nachfolger von Rafael Frühbeck de Burgos an; sie wird mit Ende der Spielzeit 2018/19 indes auslaufen (Grund hierfür ist eine geplante Kürzung des Orchester-Etats).
Gerade noch rechtzeitig, könnte man sagen, wurde nun der Schostakowitsch-Zyklus der 15 Sinfonien vollendet, der erstmals komplett in einer 11 CDs umfassenden Box erscheint (Sony Classical 19075872462). Zuvor waren bereits einige der Sinfonien in der ungewöhnlichen Kombination mit jeweils einer Beethoven-Sinfonie einzeln erschienen (Nr. 1, 5, 6, 10, 13). Aufnahmeort der zwischen 2015 und 2019 eingespielten Aufnahmen waren die Lukaskirche und der Kulturpalast in Dresden. Neben der Dresdner Philharmonie kamen der MDR Rundfunkchor (Nr. 2 und 3) und der Estonian National Male Choir (Nr. 13) sowie die Solisten Mikhail Petrenko (Nr. 13), Polina Pastirchak und Dimitry Ivashchenko (Nr. 14) zum Einsatz.
Dass Schostakowitsch im 21. Jahrhundert nicht mehr genauso interpretiert werden kann wie zu Zeiten des Kalten Krieges, ist gewiss keine neue Erkenntnis, fehlt heutigen Interpreten doch die unmittelbare persönliche Erfahrung der Umstände der Entstehungszeit (man möchte andererseits hinzufügen: Gott sei Dank). Gleichwohl untermauert diese neue Gesamtaufnahme abermals den Eindruck, dass die Zeiten des an die Substanz Gehenden, aufs Existenzielle Zugespitzten wohl endgültig vorbei sind. Wenn andernorts von der Überwindung des „Deutungsbombasts“ (Concerti) die Rede ist, so meint dies im Endeffekt dasselbe, wenngleich unter eindeutig positiven Gesichtspunkten. Nun ist es freilich kein Wunder, dass Michael Sanderling, Jahrgang 1967, eine völlig andere Sicht auf Schostakowitsch hat – haben muss – als sein Vater, 55 Jahre zuvor geboren. Auch heutige russische Dirigenten wie Valery Gergiev und Vasily Petrenko interpretieren diese Musik anders als ihre berühmten Vorläufer Mrawinski, Kondraschin, Swetlanow und Roschdestwenski. So mögen es auch fest verankerte Hörgewohnheiten sein, die das persönliche Schostakowitsch-Bild prägen.
Aber in medias res. Nehmen wir die Leningrader, also Sinfonie Nr. 7. Das berühmte „Invasionsthema“ des Kopfsatzes ist hier arg ästhetisierend, stellenweise eher an einen sonntäglichen Spaziergang denn eine mörderische kriegerische Intervention erinnernd. Orchestral gewiss sehr gediegen und präzise, doch wo ist die bei diesem Komponisten so wichtige brachiale Scharfkantigkeit? Gleichsam Schostakowitsch auf Sparflamme. Man höre einmal unmittelbar nacheinander diese Neueinspielung und die Aufnahme von Jewgeni Swetlanow von 1978 (Melodija) oder jene von Kirill Kondraschin von 1975 (ebenfalls Melodija), um zu sehen, was hier möglich ist. Dies setzt sich andernorts fort. So vermisst man dann und wann die Hintergründigkeit, etwa im allzu leicht einseitig bombastisch anmutenden Finalsatz der Fünften. Freilich scheiterten bereits in der Vergangenheit selbst so unbestreitbar große Dirigenten wie Leonard Bernstein in Sachen Schostakowitsch mitunter auf hohem Niveau (man denke an seine verunglückte Leningrader, die unfreiwillig an Hollywood erinnerte).
Am besten scheinen Sanderling die „leichteren“ Werke zu liegen. Die Sechste und die kammermusikalische Neunte kommen seinem Ansatz entgegen, während er bei den Monumentalwerken wie der Fünften, Siebten, Achten, Zehnten und Elften an seine Grenzen stößt. Die schwierigen frühen Chorsinfonien Nr. 2 und 3 wird wohl kein Dirigent zu Meisterwerken emporheben können – viele der großen Alten mieden sie sogar. Die wenig geliebte Zwölfte, die unter einem begnadeten Dirigenten durchaus zu einem solchen Meisterwerk werden kann (neben Mrawinski besonders Ogan Durjan mit dem Gewandhausorchester Leipzig auf Philips), ist leider an den entscheidenden Stellen verhetzt. Der grandiose Übergang vom dritten zum vierten Satz, einer der großartigsten überhaupt, überzeugt hier nur bedingt, auch weil die gespenstische Grundstimmung fehlt.
Die morbide Vierzehnte, eigentlich ein Liedzyklus, vermag dafür durchaus für sich einzunehmen, auch wenn man bei den modernen Einspielungen vielleicht eher noch zu Currentzis‘ außerordentlicher Aufnahme (Alpha) greifen wird. Interessant gerade die Loreley, wo sowohl der Bassist Dimitry Ivachchenko als auch die Sopranistin Polina Pastirchak durch Expressivität punkten können. Insgesamt recht gelungen ist die Fünfzehnte, das sinfonische Abschiedswerk Schostakowitschs, auch wenn man die Wagner-Zitate im Schlusssatz schon deutlicher herausgearbeitet hörte, so etwa bei Sanderling senior in seiner ausgezeichneten Einspielung mit dem Berliner Sinfonie-Orchester.
Eine für sich genommen überdurchschnittliche, in Teilen auch durchaus überzeugende neue Gesamtaufnahme, die indes das Schicksal aller Neueinspielungen (inklusive Gergiev, Petrenko, Kitajenko und Nelsons) teilt: Die ganz großen Interpretationen in Sachen Schostakowitsch stammen schlicht und ergreifend aus den Zeiten des Kalten Krieges und beinahe ausnahmslos aus dem ehemaligen Ostblock. Wer frischen Wind in Form eines „zeitgemäßen“ Neuzugangs sucht, wird hier gleichwohl keinen Fehlkauf tätigen, auch wenn man keiner der fünfzehn Einspielungen Referenzstatus zubilligen kann. Klanglich gibt es keine Einwände anzubringen. Daniel Hauser