Nullte und Achte

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Hätte Johann Sebastian Bach eine romantische Sinfonie geschrieben, wie hätte sie wohl geklungen? Sicherlich eine rein hypothetische Frage, die spekulativ bleiben muss. Und doch gibt es bei Anton Bruckner stellenweise eine erstaunliche Rückbesinnung, die auch an Bach gemahnt. Tatsächlich sah sich Bruckner selbst als einen „Unzeitgemäßen“, so dass Reminiszenzen nicht allzu sehr verwundern sollten. Dass man sie gerade in einem Werk findet, das gemeinhin nicht im Fokus steht, ist von daher hochspannend. Die vom Komponisten später als „ungiltig“, „ganz nichtig“ und „annulirt“ bezeichnete Sinfonie d-Moll WAB 100, wohl auch deswegen inoffiziell Die Nullte genannt, stammt aus dem Jahre 1868, steht also zwischen der regulären ersten und der zweiten Sinfonie, was man bis 1983 gar nicht wusste und sie deutlich früher verortete. Zu seinen Lebzeiten wurde sie nicht aufgeführt. Der Wiener Hofopernkapellmeister Felix Otto Dessoff meinte nach Durchsicht der Partitur konsterniert: „Ja, wo ist denn das Thema?“ Dass Bruckner es trotz allem nicht übers Herz brachte, die Partitur zu vernichten, darf als Glücksfall bezeichnet werden, denn so konnte sehr viel später – im Jahre 1924, im Gedenkjahr anlässlich der 100. Wiederkehr seiner Geburt – doch noch ihre Uraufführung begangen werden

Und nun, fast wiederum ein Jahrhundert später, legt Capriccio sie im Rahmen seiner geplanten Gesamtaufnahme mit dem Bruckner Orchester Linz unter Markus Poschner vor (Capriccio C8082). Die Nullte hat sich langsam aber doch merklich einen festen Platz in der Bruckner-Diskographie erkämpft und wird immer häufiger bei Zyklen der Bruckner’schen Sinfonien mitberücksichtigt – anders als die ganz frühe Studiensinfonie f-Moll, teils scherzhaft Doppelnullte genannt, die noch wenig von einem eigenen Personalstil Bruckners erahnen lässt. Dies kann man der Nullten indes nicht unterstellen. Speziell im Kopfsatz und zu Beginn des Schlusssatzes wähnt man einen bald bachisch, bald mediäval anmutenden Tonfall, nicht ganz unähnlich jenem in Mendelssohns Reformations-Sinfonie. Der langsame Satz erreicht zwar noch nicht die Ausmaße späterer Bruckner-Sinfonien, doch hat er trotz seines etwas provisorischen Charakters seinen Reiz. Dies gilt in Sonderheit für das sehr trotzig daherkommende Scherzo, das einen frühen Höhepunkt im Schaffen Bruckners darstellt. Poschners Ansatz ist eher kammermusikalisch und insofern die gar nicht so kleine Diskographie durchaus bereichernd. Er vermeidet Klangmischmasch und zielt auf sehr gute Durchhörbarkeit, unterstützt von der wirklich exzellenten Tontechnik (Aufnahme: Musiktheater, Linz, 22.-24. Februar 2021). Mit Poschners eigenen Worten gesagt, sei das Schaffen Bruckners „bis heute provokativ, unfertig, streitbar, unangepasst radikal und damit zeitlos modern“. Die beschreibt letztlich auch treffend seine Interpretation. Das Bruckner Orchester Linz ist selbstredend in seinem Element. Es ist auch nicht dessen Erstbeschäftigung mit dem Werk.

2008 spielte Dennis Russell Davies die Sinfonie „Nr. 0“ für Arte Nova ein. Und schon von 1981 gibt es eine ORF-Produktion mit Theodor Guschlbauer. Selbstredend bedient man sich auch diesmal der 1968 vorgelegten Edition von Leopold Nowak, welche die bis dahin genutzte 1924er Edition von Josef Venantius von Wöss als überholt erscheinen ließ. Alles in allem also eine sehr gelungene Alternative zu den „romantischeren“ und ähnlich genialen Einspielungen von Stanislaw Skrowaczewski (mit dem RSO Saarbrücken bei Oehms, besonders aber mit dem japanischen Yomiuri Nippon Symphony Orchestra bei Denon) und Paavo Järvi (mit dem hr-Sinfonieorchester in der neuen Komplettbox bei RCA). Das beiliegende zweisprachige Booklet (Deutsch und Englisch) mit informativem Einführungstext von Paul Hawkshaw ist tadellos. Daniel Hauser

Bereits im Februar 2018 wurde die vom Umfang her gewaltigste Bruckner-Sinfonie, nämlich die Achte, durch das Bruckner Orchester Linz unter Markus Poschner im Rahmen der geplanten Gesamtaufnahme eingespielt (Capriccio C8081). Man entschied sich für die bewährte Leopold-Nowak-Edition von 1994, welche die Hinzufügungen von Robert Haas eliminierte und Bruckners 1890 vollendete Zweitfassung der Sinfonie darstellt (die Erstfassung von 1887 soll durch Poschner und die Linzer ebenfalls noch vorgelegt werden). Wie Paul Hawkshaw in seinem sehr lesenswerten Essay darlegt, erkannte der notorische Wiener Kritiker Eduard Hanslick den Stellenwert des Werkes mitnichten und stürmte bei der Uraufführung theatralisch noch vor dem Finalsatz aus dem Saal. Er lag aus heutiger Sicht, wie so häufig, daneben. Schon Johannes Brahms soll hingegen gemeint haben, Bruckner sei eben doch ein großes Genie.

Trotz vergleichsweise lebendiger Tempowahl (15:12 – 13:52 – 24:32 – 22:36), die eine einzige CD ausreichend macht, verfällt Poschner glücklicherweise nicht einem unangemessenen Geschwindigkeitsrausch. Selten gehörte Nebenstimmen werden durch den transparenten und doch vollen Orchesterklang beleuchtet, ohne das dem Werk darüber die Majestät genommen würde, die es gleichsam naturgemäß ausstrahlt. Die orchestralen Höhepunkte wie die Beckenschläge im himmlischen Adagio und gerade auch die fulminante Schlusscoda mit fanfarenartigen Blechbläsern werden herzhaft ausgespielt. Die Flexibilität des Dirigats Poschners gemahnt stellenweise fast an den in Sachen Bruckner für nicht wenige unerreichten Eugen Jochum. Poschners Interpretation steht in der katholisch-süddeutschen Tradition, was beim in München geborenen Dirigenten und dem in der Bruckner-Exegese überaus erfahrenen oberösterreichischen Klangkörper nicht wundernimmt. Überhaupt muss wiederum die spieltechnische Qualität des Orchesters betont werden, das zumindest in diesem Repertoire mit berühmteren Orchestern problemlos mithalten kann.

Klanglich darf dem Wiener Label Capriccio abermals eine ungemeine Brillanz bescheinigt werden, die diese Serie schon jetzt zum audiophilen Glanzpunkt in jeder Bruckner-Sammlung macht. Als kleinen Wermutstropfen mag der HiFi-Anhänger empfinden, dass die „Bruckner 2024“-Reihe nicht auch im SACD-Format erscheint. Aber das sind Marginalien. Auch bezüglich Sinfonie Nr. 8 darf gelten: Geglückt in jeder Beziehung. Daniel Hauser