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Vom rumänischen Dirigenten Sergiu Celibidache ist heutzutage vor allem seine späte Münchner Phase, als er zwischen 1979 und seinem Todesjahr 1996 den dortigen Philharmonikern vorstand, in Erinnerung geblieben. Sie prägte im Wesentlichen die Urteile der Nachwelt über ihn, den Christoph Schlüren im lesenswerten Einführungstext (auf Deutsch und Englisch) der jetzigen Neuerscheinung als „[u]nter den großen Dirigenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts […] ohne jeden Zweifel die ungewöhnlichste Erscheinung“ nennt. Tatsächlich lehnte Celibidache das Aufnahmestudio weitestgehend ab. Eine Ausnahme stellten die Rundfunkanstalten dar, standen ihm deren Orchester vielerorts doch zum Preis einer Rundfunkübertragung zur Verfügung. Eine Aufnahme, die sich gleichsam als „Abfallprodukt“ einer solchen Live-Übertragung im Rundfunk erhalten hat, ist ein Studiokonzert aus dem Sendesaal Villa Berg in Stuttgart vom 17. September 1959, das nun auf dem SWR-Label erstmals zur offiziellen Veröffentlichung gelangt (SWR19118CD). Es steht am Anfang der wenig bekannten ersten Zusammenarbeit Celibidaches mit dem damaligen Südfunk-Sinfonieorchester Stuttgart, die von 1958 bis Mitte der 1960er Jahre währte. Seine zweite Stuttgarter Phase von den 1970ern bis 1982 ist wesentlich bekannter geworden und teilweise auch schon seit langem auf CD verfügbar gemacht worden (diverse Bruckner-Sinfonien bei der Deutschen Grammophon).
Vom berüchtigten Spätstil Celibidaches, der von seiner Beschäftigung mit dem Buddhismus beeinflusst war, ist das nun vorgelegte Rundfunkkonzert noch weit entfernt. Den Anfang macht die Sinfonie Nr. 102 von Joseph Haydn, also die drittletzte der sogenannten Londoner Sinfonien und insofern eines der ausgefeiltesten Werke des „Urvaters der Sinfonik“ überhaupt. Besonders diesem Werk von 1794/95, in B-Dur stehend, wird eine Beethoven-Nähe attestiert. Manche erkennen in ihr gar die beste Haydn-Sinfonie, auch wenn sie landläufig aufgrund eines fehlenden prägnanten Beinamens weniger bekannt wurde als die zwei vorhergehenden, Nr. 100 Militärsinfonie und Nr. 101 Die Uhr, und die beiden nachfolgenden, Nr. 103 mit dem Paukenwirbel und Nr. 104 London. Selbstredend untergliedert sich auch die 102te in die klassischen vier Sätze. Das einleitende Largo, sehr getragen genommen, lässt bereits den späten Celibidache erahnen. Die Exposition des Kopfsatzes wird hier auch wiederholt, was der Dirigent im Alter ablehnte. Gleichwohl sind sowohl nachfolgendes Vivace als auch der Schlusssatz von einer Frische, wie man sie Celibidache so kaum zutraut. Der langsame zweite Satz erhält ein bereits in die Romantik weisendes Gewicht, das Menuett einen etwas derben Anstrich. Insgesamt erzielt Celibidache eine gute Durchhörbarkeit, die leider vom mediokren Mono-Klangbild natürlichen Grenzen unterworfen ist. Gleichwohl eine wichtige Ergänzung der Celibidache-Diskographie, legte er die Haydn’sche Sinfonie Nr. 102 doch in späterer Zeit nicht mehr vor.
Den zweiten Teil und gewiss auch den Höhepunkt dieses Studiokonzerts bildete die Sinfonie Nr. 6 von Peter Tschaikowski, die sogenannten Pathétique, die bis zuletzt zum Kernrepertoire Celibidaches zählte. Unter den westlichen Dirigenten waren seine Tschaikowski-Darbietungen mit die prägnantesten, was vielleicht doch auch an seiner südosteuropäischen Verwurzelung liegen mag. Das Hin und Her zwischen Lyrik und Dramatik, insbesondere im Kopfsatz, ist meisterhaft umgesetzt und gemahnt an „ein[en] Mongolensturm, der ein russisches Dorf überfällt“ (Schlüren). Der zweite, weit weniger monumentale Satz gelingt wahrlich con grazia. Den berühmten Marsch im dritten Satz zeichnet Celibidache brutal und hohl militaristisch, wie eine Entlarvung des bereits seinem Ende zugehenden Zarentums. Der desillusionierte Finalsatz schließlich bringt nochmal einen allerletzten Versuch des Aufbäumens, der freilich bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt ist. Die Zeitmaße sind mit insgesamt 49 Minuten Spielzeit bereits 1959 auf der langsameren Seite, gleichwohl aber noch weit entfernt von der bei EMI erschienenen, fast einstündigen Spätaufnahme von 1992, in welcher der Kopfsatz ganze vier und der Schlusssatz immerhin drei Minuten mehr veranschlagt. Die klanglichen Einschränkungen der alten Südfunk-Produktion mindern zwar den uneingeschränkten Hörgenuss, doch macht die für sich einnehmende Interpretation dies mit etwas gutem Willen gleichsam vergessen.
In der Summe eine erfreuliche Neuerscheinung, die jedem Bewunderer des großen Rumänen ans Herz gelegt sei – sofern Stereophonie kein absolutes Muss darstellt. Daniel Hauser