Chaplin, der Komponist

Modern Times  ist vielleicht Chaplins bester Film, trotz Großer Diktator und Goldrausch. Der Historiker Philipp Blom geht in seinem neuen Buch über die dreißiger Jahre sogar soweit, ihn als das filmische Dokument der Ära schlechthin zu bezeichnen, das die Ängste und Sorgen, aber auch den überkandidelten Sinn für Humor der Zeit am markantesten einfängt, anachronistischerweise mit Stummfilm-Mitteln. Das war damals eine Provokation, denn Stummfilme wurden schon seit 5 Jahren nicht mehr produziert, der Tonfilm hatte sich 1936 längst durchgesetzt. Aber gerade das verführte den Komponisten Chaplin dazu, noch einmal einen Stummfilm zu drehen und die Tonspur komplett für Orchestermusik zu benutzen, übrigens einem Orchester, das etwa der opulenten Besetzung einer Strauss-Oper entspricht – mit über 70 Musikern.

"Modern Times"/Charlie Chaplin 1936/Wiki

„Modern Times“/Charlie Chaplin 1936/Wiki

Der Film spielt wenige Jahre in der Zukunft, etwa 1940. Inzwischen ist die Industrie vollautomatisiert, die wenigen, die  Arbeit haben, müssen sich an irrwitzig schnell laufenden Fließbändern abquälen. Der einfache Fabrikarbeiter Charlie hat einen Nervenzusammenbruch am Band. Nach Irrenhaus und Gefängnis schlägt er sich mit seiner Freundin, einer arbeitslosen Vollwaisen, durch das dystopische düstere Amerika der Zukunft und erlebt dabei sehr komische und auch sehr traurige Abenteuer. Schon der Beginn des Films ist genial komponiert – nach extrem herben tragischen Eröffnungstakten, die in ihrer Qualität auch von Gershwin sein könnten, hören wir eine irrwitzige rasselnde Maschinenwelt, Viele Zeitgenossen erkannten in dieser Musik den Sound ihrer hektischen Zeit wieder.

Der Komponist Chaplin hat hier so sorgfältig gearbeitet wie nie wieder in seinem Leben. Durch die vielen markanten tänzerischen Elemente wirkt die Komposition wie eine große Ballettmusik. Natürlich ist die Musik vom Film  dazu nicht ganz ablösbar, aber ähnlich wie bei Tschaikowskys Nussknacker kann sie über weite Strecken ein Eigenleben führen. Allein die melodischen Einfälle rechtfertigen eine rein akustische Reproduktion. Charlie Chaplin gehörte zu den Multitalenten des Kinos, er schrieb seine Drehbücher selbst, spielte in fast allen seinen Filmen die Hauptrolle und führte Regie. Weniger bekannt ist, dass Chaplin sogar die meisten seiner Filmmusiken selbst komponierte. Denn Chaplin war einer der wirklich großen Musikdramatiker des Films, jedenfalls in seinen besten Musiken, und er wäre vielleicht mit seinen markanten Einfällen der Gershwin der Filmmusik geworden, wenn nicht Gershwin selbst in seinen letzten Lebensjahren ebenfalls Filmmusik geschrieben hätte. Fest steht, Gershwin schickte Chaplin einen seiner Schüler, David Raksin, einen exzellenten Orchestrator, mit dem Chaplin seine Partituren instrumentierte, und das wirklich  hinreißend und einfallsreich.

Dies ist wirklich ein Meilenstein in der Einspielung von Filmmusik auf CD – der Dirigent Timothy Brock hat es sich nicht leicht gemacht und über einen langen Zeitraum hinweg eine gleichsam kritische Ausgabe der Partitur erstellt. Das heißt, er hat sowohl Chaplins und Raksins opiginales Notenmaterial gesichtet als auch die letzte Fassung, die dann für die Studioaufnahmen revidiert wurde. Für 8 Film-Minuten war das Noten-Material verschollen und musste aus der Tonspur mühsam nach Gehör heraus-transkribiert werden – eine Arbeit, die ursprünglich für eine Livebegleitung des Films gemacht wurde. Bei  so viel Mühe wäre es wirklich schade gewesen, mit der NDR-Philharmonie nicht auch noch ins Aufnahme-Studio zu gehen. Herausgekommen ist eine große Orchestermusik, die die Ambitionen der Komposition noch markanter, deutlicher heraushebt als die Tonspur. Denn erst jetzt können sich die ganze Raffinesse, der Witz und auch das Pathos von Chaplins Klangvisionen richtig entfalten (Charlie Chaplin: Modern Times, 1936:  Die komplette Filmmusik; NDR Philharmonie Hannover, Timothy Brock, cpo 777 286-2). M. K.