Es ist die alte Geschichte. Amarus weiß nicht, wer sein Vater und seine Mutter waren. Er ist ein Findelkind und lebt in einem Kloster. Sein Name bedeutet Bitternis. Ein Engel prophezeit ihm, dass er des Todes sei, sollte er nur ein einziges Mal vergessen, das Öl für das Ewige Licht nachzufüllen. Eines Morgens, als er seinen Dienst versehen will, findet er ein Liebespaar in Andacht vor dem Altarbild. Eine große Sehnsucht nach eigenem Glück ergreift ihn. Amarus vergisst seinen heiligen Dienst und folgt den Liebenden hinaus ins Freie. Das Licht erlischt. Später finden ihn die Mönche tot. Das ist der Inhalt der lyrische Kantate Amarus für Soli Chor und Orchester von Leoš Janáček. Er komponierte das Werk 1897. Es steht am Beginn der Serie seiner erfolgreichsten Werke. Praga Digitals im Vertrieb von harmonia mundi hat eine Einspielung unter Václav Neumann herausgebracht, die am 28. März 1974 im Prager Smetana-Saal in Stereo mitgeschnitten wurde (PRD 250 308). Für eine Liveaufnahme klingt das Dokument ganz vorzüglich. Zunächst hatte ich auf Studio getippt. Dann aber ist hier und da ein Räuspern zu vernehmen. Gelegentlich summt der Maestro mit. Der Text geht auf eine Dichtung von Jaroslav Vrchlický, der als Schüler von Victor Hugo gilt. Er verfasste Opernlibretti, darunter zu Dvoráks Oper Armida und übersetzte Werke der Weltliteratur wie Goethes Faust und die Göttliche Komödie von Dante ins Tschechische.
Lyrisch wie es der Titel verspricht, ist auch der musikalische Grundgehalt. Betörend der Beginn. Einsamkeit und Sehnsucht sind selten so eindringlich in musikalische Form gebracht worden. Sofort werden die Zuhörer in das Geschehen hineingezogen und nehmen Anteil, als seien sie selbst betroffen. Was den späteren Meisterwerken vorbehalten ist, hier klingt es bereits unverwechselbar an. Hundert Prozent Janácek! Die Originalsprache bleibt auch bei diesem sehr poetischen Werk eine Hürde für den Zugang. Inzwischen hat sie sich zwar weltweit für Janáceks Opern durchgesetzt. Den Einzelheiten in Handlung und Ausdruck kann aber nur derjenigen folgen, der die Sprache kennt. So ist das auch bei Amarus.
Die Solisten der Aufnahme, der Tenor Vilém Přibyl und die Mezzosopranistin Věra Soukupová sind Muttersprachler. Sie garantieren Authentizität. Beide haben einen guten Namen, weit über die Grenzen ihres Heimatlandes hinaus. Sie sind auch in westeuropäischen Städten aufgetreten. Neumann gilt weltweit als Sachwalter für tschechische Musik. Bei ihm ist das Werk in den besten Händen. Es singt der Philharmonische Chor Prag, es spielt die Tschechische Philharmonie. Neumann leitet außerdem die Orchestersuite aus der Oper Das schlaue Füchslein sowie das Vorspiel zum Spätwerk Aus einem Totenhaus, dem sich ebenfalls noch die Suite anschließt, diesmal unter der Leitung von František Jílek. In den Suiten entfällt das Sprachproblem. Ich liebe sie auch deshalb sehr. Die Musik kann sich völlig frei von Verständigungsproblemen entfalten. Das gilt übrigens nicht nur für Janáček. Rüdiger Winter