Beieinander, was zusammen gehört

 

Es ist die Zeit der Boxen. Die Labels ordnen ihre Archive. Das hat den Vorteil, dass endlich beieinander ist, was auch zusammen gehört. Kunden müssen sich aber auch entschließen, in ihren Beständen einzelne Platten oder CDs auszurangieren, die sich nun gesammelt in einer Box wiederfinden. Nicht immer klingt das Neue besser als das Alte. In diesem Falle ist die Neuerscheinung ein großer Gewinn: Sir Adrian Boult: From Bach to Wagner (50999 6 356572 0). EMI gönnt sich elf CDs auf einen Streich. Schon äußerlich lässt der hübsche Kasten keinen Zweifel: Hier ist ein Gentleman am Pult, ein Aristokrat. Wenn auf einen der Sir passt, dann auf diesen.

Das Foto, das auf allen CD-Hüllen wiederkehrt, strahlt große Würde und Gelassenheit aus, aber es ist auch eine leicht skeptische Heiterkeit in diesem Blick, eine Neigung zu Humor und Lebensfreude. Der Hörer ist versucht, davon etwas aus den Interpretationen der einzelnen Stücke herauszuhören. Und er wird fündig. Bei Mozart (Haffner- und Jupiter- Sinfonie), Suppé (Dichter und Bauer-Ouvertüre), Strauß (Radetzky-Marsch) allemal. Sir Adrian ist immer leicht, schwebend, er findet viel Licht in den Partituren. Seine Musik duftet sogar. Es hat etwas Beglückendes, ihm zuzuhören. Die Box ist außerordentlich vielseitig, von Bach bis Wagner wörtlich gemeint. Den Auftakt bilden die Brandenburgischen Konzerte, es gibt viel Beethoven, darunter eine hinreißende „Pastorale“, Schubert (Große C-Dur-Sinfonie), reichlich Brahms (alle vier Sinfonien, die Haydn-Variationen, die beiden Serenaden, Konzert-Ouvertüren sowie die „Alt-Rhapsodie“ mit Janet Baker, die „Italienische Serenade“ von Wolf und viel orchestralen Wagner von der Faust-Ouvertüre bis hin zu Parsifal und oben drauf das delikate Siegfried-Idyll wie es nur selten zu hören ist. Diese Box kann nur wärmstens empfohlen werden. Eine Box für die berühmte einsame Insel!

36 (!) CDs voller Wagner-Musik bei Decca.

36 (!) CDs voller Wagner-Musik bei Decca.

Die Decca feiert ihren einstigen Pultstar Sir Georg Solti, der 2012 hundert Jahre alt geworden wäre. Eine Box fasst die Aufnahmen der Opern von Richard Wagner zusammen (4783707). Was die Ausstattung anbetrifft, bleibt diese Wiederauflage hinter den originalen Ausgaben weit zurück. Die Libretti finden sich auf einer CD-ROM, das beiliegende Heft ist knapp gehalten, wenigstens aber mit einigen schönen Fotos versehen. Wer sich zur Anschaffung entschließt, wird sich einige Doubletten ins Haus holen. Neuigkeiten kann diese Box nämlich nicht bieten – wie denn auch? Solti und Wagner ist ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der Schallplatte. Es wird deutlicher in dieser Ballung der einzelnen Titel mit dem legendären Ring des Nibelungen im Zentrum. Gemessen an der Vielzahl der folgenden Studioeinspielungen ist er nie übertroffen worden. Künstlerisch nicht, aufnahmetechnisch auch nicht.

Und Solti selbst vermochte sich nach meiner Überzeugung in keiner anderen Oper noch steigern. Er hatte mit diesem Ring seinen Zenit erreicht.

Hier lodern die Flammen, hier rauscht es auf, hier entsteht dieser Kosmos Wagner – das Bühnenfestspiel, das sich in seinen Dimensionen und in seiner Aussage von allem abheben will, was es bis dahin gab auf der Opernbühne. Dieser Dirigent konnte bei der Besetzung aller Rollen in die Vollen greifen: Birgit Nilsson, Kirsten Flagstad, Regine Crespin, Joan Sutherland, Christa Ludwig, Wolfgang Windgassen, James King, George London Hans Hotter, Gottlob Frick Dietrich Fischer-Dieskau, Gustav Neidlinger. Alle, einschließlich Produzent John Culshaw, sind davon besessen, ein Ausnahmewerk für die Ewigkeit auf Tonträger zu bannen.

Spätere Einspielungen wie der Lohengrin mit Placido Domingo und Jessye Norman haben diesen Pioniergeist verloren. Sie sind zu sehr auf aktuelles Staraufkommen abgestellt. Die Aufnahme ist nicht mehr aus einem Guss, sie zerfällt in ihre Einzelteile. Hingegen schließen Tannhäuser mit René Kollo, Helga Dernesch und Christa Ludwig sowie Parsifal ebenfalls mit Kollo und der Ludwig sowie dem grandiosen Gottlob Frick als Gurnemanz an die große Zeit an. Für Tannhäuser spricht auch der Rückgriff auf die Pariser Fassung, in der sich die Ludwig als Venus hochdramatisch voll entfalten kann. Wunderbar!

Dem Fliegenden Holländer mit Janis Martin und Norman Bailey habe ich neue spannende Eindrücke abgewinnen können, in Teilen auch den Meistersingern.

Tristan und Isolde ,1960 im berühmten Wiener Sofiensaal aufgenommen wie die meisten anderen Werke auch, gehört damit zu den frühen Solti-Aufnahmen. Leider ist der Tristan mit Fritz Uhl nicht optimal besetzt, er kann der Nilsson, die damals auf der Höhe ihres Könnens war, nicht das Wasser reichen. Ernst Kozub, von dessen Talent sich Solti so viel versprochen hatte und den er auch gern als Siegfried gehabt hätte, ist in diesem erwartungsvollen Sinne als eindrucksvoller Melot zu hören. Schade, dass aus diesen großen Plänen nichts geworden ist. Eine Frage bleibt nach der erneuten und willkommenen Beschäftigung mit Georg Solti: Warum ist es nicht zu einer Einspielung des kompletten Rienzi gekommen? Dieser Dirigent wäre der Richtige dafür gewesen. Er hatte diesen starken Sinn für Größe in der Musik, für den dramatischen Effekt. Ein Jammer, dass es nicht dazu kam.

Rüdiger Winter