Dass Lehár ein „moderner“ Operettenkomponist ist, fällt vielen schwer zu glauben. Schließlich ist es so schön „opernhaft“ wenn der Richard, Fritz, Placido oder Rudolf „Dein ist mein ganzes Herz“ schmettern. Da passt es nicht recht ins Bild, dass Lehár auch Foxtrotts, Rumbas und Tangos komponierte, die entsprechend vorgetragen und getanzt werden wollen. Schon 1905 findet sich im 3. Akt der Lustigen Witwe ein Cake-Walk, als neuester Trend aus den USA. Hört man die Aufnahme von John Eliot Gardiner – der sich als Experte für „historisch informierte Aufführungspraxis“ sieht – würde man in der entsprechenden Tanzszene Nr. 13 glauben, es handle sich um einen Infanteriemarsch, nicht um den letzten Schrei in Sachen Up-to-date-Sein.
Bevor Lehár mit dem Paganini für seinen neuen Seelenverwandten Richard Tauber die erfolgreiche Spätphase seiner Karriere einläutete, charakterisiert durch tränenreiche Entsagungsstücke mit großem Opernpathos (und großen Opernstars wie Vera Schwarz, Gitta Álpár oder Jarmila Novotna an Taubers Seite), komponierte er 1924 noch ein letztes Mal eine rundum dem Zeitgeist und Humor verpflichtete Tanzpartitur, die sich auf Augenhöhe mit den Jazz- und Revueexperimenten seiner Konkurrenten bewegte: Cloclo heißt das Werk, das im Wiener Bürgertheater uraufgeführt wurde mit der Soubrette Louise Kartousch in der Titelpartie. Sie war auch bekannt wegen vieler hüllenloser Fotos oder wegen draufgängerischer Hosenrollen (etwa in Ein Herbstmanöver).
Cloclo ist eine freche Sittenkomödie um eine Pariser Nachtclubtänzerin, die eine Affäre mit dem verheirateten Bürgermeister der fiktiven Kleinstadt Perignan hat, sein Name ist Monsieur Cornichon. Eigentlich liebt sie aber den mittellosen Adligen Maxime de la Vallé. Da der kein Geld hat, pumpt sie in einem Brief Cornichon um 3000 Francs an, für eine Geldstrafe, weil sie einen Polizisten geohrfeigt hat. Sollte sie nicht zahlen, muss sie ins Gefängnis. Den Brief an Cornichon adressiert sie an „Mein liebes Papachen!“ Er gerät in die Hände von Cornichons sittenstrenger Ehefrau Melousine. Die bricht umgehend nach Paris auf, um das uneheliche Kind ihres Mannes in den Schoss der Familie heimzuführen und ihm eine anständige Erziehung angedeihen zu lassen. Schließlich war bzw. ist ihre Ehe mit Cornichon kinderlos, obwohl sie sich so sehr Nachwuchs gewünscht hatte.
Natürlich fliegt das Spiel mit den falschen Identitäten irgendwann auf, und zwar mitten beim 50. Geburtstagsfest von Bürgermeister Cornichon, bei dem der Staatsminister und sämtliche Honoratioren von Perignan anwesend sind. Die enttarnte Cloclo wird von der Polizei verhaftet. Zuvor sind die Szenen urkomisch, in denen Cornichon seiner Geliebten von der eigenen Ehefrau als „Geburtstagsüberraschung“ vorgestellt wird. Oder wenn Melousine die kleine Cloclo über die Gefahren der Männerwelt aufklären möchte und aus ihrem reichen Erfahrungsschatz berichtet. Oder wenn der eifersüchtige Maxime auftaucht mit gezückter Pistole und sich erst beruhigt, als er erfährt, dass Cornichon kein Widersacher, sondern sein künftiger Schwiegervater ist.
Die Rolle der Melousine spielte bei der Uraufführung die grandiose Gisela Werbezirk, eine Art österreichische Adele Sandrock, die dem Stück ihren Stempel aufdrückte. Der Groteskkomiker Ernst Tautenhayn war ihr Mann, und die kesse Kartousch eine aufmüpfige Cloclo. Sie durfte u.a. den Shimmy „Olé-Olá-Olé“ singen, einer von vielen „neuartigen“ Tänzen im Stück, neben dem Blues „Pflücke die Rose dir“ mit Celesta und Banjo und dem Foxtrott „Ich habe La Garçonne gelesen“ (der große Schlager bei der Uraufführung, von Werbezirk mit erschüttertem Tonfall vorgetragen).
2019 brachte das Lehár Festival in Ischl Cloclo als semikonzertante Aufführung heraus und zeichnete diese live auf, ebenso die öffentliche Generalprobe. Das ist das große Plus dieser cpo-Aufnahme (2CD cpo 9254290), denn man hört in den umfangreichen Dialogszenen immer wieder die Lacher des Publikums, die darauf hindeuten, dass die Witze im Libretto von Bela Jenbach nach wie vor hervorragend funktionieren. Hier in der Fassung von Jenny W. Gregor zu hören.
Besetzt ist das Stück in Ischl mit Sieglinde Feldhofer als Titelheldin. In ihrer Biografie kann man im Booklet lesen, sie würde auch Eliza Doolittle (in My Fair Lady) und Maria (in West Side Story sowie The Sound of Music) singen, ebenso die Gigi (in Gigi). Das deutet auf Erfahrung mit Broadway-Musicals hin und darauf, dass sie eigentlich den zwischen Sprechen und Singen changierenden ungekünstelten Ton gut treffen müsste, der hier von Lehár verlangt wird. Die Betonung liegt auf „müsste“, denn Feldhofer bleibt gepflegter Opernsopran, durch und durch. Sie klingt gut, teils sogar überaus edel, aber es fehlt jeder Funken Aufmüpfigkeit und jedes souveräne Spiel mit Text, also genau das, wofür Louise Kartousch berüchtigt war.
Susanne Hirschler als Melousine wiederum ist zwar Schauspielerin und Komödiantin, aber traut sich (akustisch) nicht, drastisch dreinzuhauen. Sie versucht viel zu „distinguiert“ zu singen, was durchweg unschön klingt und in den Musiknummern an jedem komischen Effekt vorbeischrammt. Das ist schade, weil die Rolle und alles was mit ihr zusammenhängt dankbares Material liefert. Über Gisela Werbezirk kann man in einer Uraufführungskritik von Friedrich Torberg lesen: „Sie besaß eine Bühnenpräsenz von schlechthin monströser Wirkung und etablierte sie schon durch ihr bloßes Erscheinen, durch die groteske Überwältigungskraft ihres Äußeren.“ Das sollte sich auch auf Tonträger vermitteln, wenn man dieses Stück heute aufführt. Grotesk bzw. monströs ist Hirschler absolut nicht. Sie hat in Ischl stattdessen die Rössl-Wirtin gegeben, die ein völlig anderes Fach darstellt.
Vokal schlägt sich Bariton Gerd Vogel als Severin Cornichon da besser, weil charaktervoller, aber auch er bleibt durchweg einem Opernton verhaftet, statt „Lustspieloperette“ zu liefern. Vermutlich ein Missverständnis, für das der Chefdirigent des Lehár Festivals höchstselbst verantwortlich ist: Marius Burkert lässt viele Besonderheiten in der Instrumentation aufblitzen, hat aber offensichtlich keine Ahnung, wie Tanzmusik der 1920er-Jahre gespielt werden muss. Jedenfalls nicht wie eine Lortzing-Spieloper.
Wie gesagt, in den Dialogszenen kommt dank der Live-Reaktionen des Publikums zumindest eine Ahnung vom Wirkungspotenzial des Stücks auf. Und in den Nebenrollen kann man einige positive Überraschungen erleben: Matthias Störmer ist ein hinreißend komischer Polizeioffizier, der durch die Cloclo-Ohrfeige zu nationaler Berühmtheit in Frankreich gelangt. Er hat so gut wie nichts zu singen, aber er spielt. Und wie! Daneben der junge Ricardo Frenzel Baudisch als Klavierlehrer Chablis, der Cloclo ausbilden soll auf Wunsch von Melouise, aber beim Skalenspielen ganz andere Gedanken hegt. Die Tonleiter-Szene in C-Dur ist ein Highlight der Aufnahme.
Sehr hilfreich zum Verständnis der Zusammenhänge ist Frank Voß als Erzähler. Er klingt auf der Aufnahme recht weit weg platziert, aber man versteht ihn trotzdem gut. Und er trifft den süffisant-ironischen Ton, den ich mir bei den drei Hauptdarstellern gewünscht hätte.
So findet – wie so oft bei cpo-Operettenausgaben – das Stück nur eingeschränkt statt, wird weit unter Wert verkauft, weil man meint, ihm musikalisch „gerecht“ zu werden, statt es lustvoll auszumusizieren. Da kann man halt nichts machen: so ist cpo, und dafür steht auch der Lehár Festival unter Intendant Thomas Enzinger.
Zeitgleich mit dem cpo-Doppelalbum hat die US-amerikanische Operetta Foundation eine DVD-Aufzeichnung von Cloclo von der Ohio Light Opera herausgebracht, in englischer Sprache. Die Inszenierung von Steven A. Daigle sieht provinziell aus, erlaubt aber die Handlung komplett zu sehen, nicht nur zu hören. Caitlin Ruddy in der Titelrolle ist auch kein Ausbund an Kessheit à la Katousch. Der Rest: brav und extrem „camp“, was manchmal unfreiwillig komisch ist, aber vermutlich nicht im Sinne von Jenbach und Lehár. Steven Byess dirigiert, die Bravour der Lehár‘schen Instrumentation hört man jedoch in Ischl besser. (Die DVD kann man über die Webseite der Operetta Foundation bestellen.)
Auf alle Fälle lohnt das Stück die Bekanntschaft, nicht nur weil es Lehárs Abschied von einem „zeitgenössischen“ Operettenton markiert, den in den Zwanzigerjahren andere effektvoller trafen als er. (Parallel zu Cloclo ging 1924 am Theater an der Wien Kálmáns synkopierte Gräfin Mariza in Premiere und löste Lehárs Vormachtsstellung an dem Haus der Witwe-Uraufführung ab.) Das Stück über Verwechslungen, emanzipierte Frauengestalten, überkommene Moralvorstellungen und Eheprobleme-die-sich-lösen-lassen hat uns nach wie vor viel zu sagen – und die Lacher in Ischl belegen, dass ein heutiges Publikum darauf immer noch reagiert. Kevin Clarke ǀ Operetta Research Center Amsterdam; mit weiteren und schönen historischen Fotos.