Philipp Jaroussky ist immer auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern. Seine Vielseitigkeit scheint auch auf Neugierde zu beruhen. Obwohl er sehr oft in Deutschland aufgetreten ist und gut Deutsch spricht, hat er als Sänger um diese Sprache bei seinen Aufnahmen bisher einen Bogen gemacht. Aus gutem Grund. Wir Deutschen lieben bekanntlich den französischen Akzent, von dem eine ganze Unterhaltungsindustrie mit Liedern, Schlagern und Filmen gelebt hat. Als Klischee ist das für uns zu einer Vorstellung von Frankreich geworden, die Realitäten ausblendet. In der Wirklichkeit hat ein nicht-deutschsprachiger Sänger schwer damit zu kämpfen, seine Aussprache davon zu befreien. Jaroussky gelingt das sehr gut. Ein Rest aber bleibt. Seine vielen Anhänger lieben ihn auch deshalb.
Mit Sacred Cantats ist der Countertenor bei Johann Sebastian Bach und Georg Philipp Telemann angekommen. Er hatte sein erstes deutsch gesungenes Programm in der Vorweihnachtszeit des vergangenen Jahres vor Publikum in Berlin ausprobiert. Jetzt ist es bei Erato auf CD herausgekommen (08256 46491599). Jaroussky war 2015 im Konzerthaus am Gendarmenmarkt Artist in Residence. Er liebt Berlin, wie er in Interviews immer wieder bekundet. Ihm nimmt man das ab. Berlin sei so ganz anders als andere Städte in Deutschland, so der Weitgereiste in einem ihm gewidmeten Beitrag im einschlägigen Saisonheft des Konzerthauses. „Es ist die perfekte Stadt für Kunst und Künstler. Nicht zu teuer, frei und wenig reglementiert. Kunst ist hier lebendig.“ Inzwischen sind Auftritte in Berlin so etwas wie Heimspiele. Nach dem Konzert war Jaroussky sofort nach Freiburg geeilt, um mit dem dort ansässigen hoch ambitionierten Barockorchester, das ihn auch in Berlin begleitete, die Aufnahme zu produzieren. Das Konzert fand am 10. Dezember statt, zwei Tage später begann die Arbeit im Studio, die am 19. abgeschlossen wurde. Alle Beteiligten nahmen sich Zeit. Live-Atmosphäre liegt noch in der Luft.
Wieder beginnt Jaroussky mit Bachs „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“. Er hat weitestgehend hinter sich gelassen, war vor Publikum nicht ganz optimal ausgefallen war. Die Stimme ist nicht mehr so unstet, tiefe Töne haben einen besseren Sitz, Verblendungen sind perfekter. Mit der Wortverständlichkeit, die bei diesen Kantaten unabdingbar ist, weil sie vom Wort her kommen, hapert es nach wie vor. Bei der Telemann-Kantate Der am Ölberg zagende Jesus fand und findet Jaroussky zu seinen phänomenalen Möglichkeiten zurück. Dies dürfte auch daran liegen, dass Telemann weniger streng klingt als Bach. Opernhafte Züge mit schwungvollen musikalischen Einschüben sind allgegenwärtig. Jaroussky betont sie ausdrücklich, denn sie kommen ihm entgegen. Dieser Eindruck vermittelte sich auch bei der Passionskantate Jesus liegt in letzten Zügen, die ebenfalls von Telemann stammt. In diesem Werk gibt es mit der Arie „Mein liebster Heiland“ einen Höhepunkt, dem Jaroussky in der Bach-Kantate „Ich habe genug“ noch einen hinzu gibt. Mit der Arie “Schlummert ein, ihr matten Augen” lässt er vieles vergessen, was an kritischen Einwänden vorzubringen ist.
Diese Bach-Kantate findet sich auch auf einer DVD, die dem CD-Album beiliegt und es etwas teurer macht. Mit dieser Kopplung setzt sich die Neuerscheinung von anderen Produkten mit ähnlichen Programmen zusätzlich ab. Jaroussky drückt Bach und Telemann ohnehin schon seinen eigenen Stempel auf. Nicht aus Eitelkeit, sondern nach Maßgabe seiner individuellen stimmlichen Möglichkeiten, die bei jeder Musik, die er singt, als unverwechselbares Markenzeichen durchschlagen. Er ist immer auf Anhieb zu erkennen. Ob deutsche Komponisten für ihn eine weitere Option sind oder ob es bei einer Episode bleibt, muss sich erst zeigen. Entschieden ist offenbar nichts. Jedenfalls ist auch die DVD ein Zeugnis der Annäherung. Der schnörkellose Produktionsraum, die Musiker in schlichter Kleidung. Technik. Mikrofone, Kabel, Pulte statt Kronleuchter und Polsterstühlen. Mitten drin Jaroussky als Teil eines anstrengenden kollektiven Bemühens um Bach. Rüdiger Winter