WEISST DU WIE DAS WARD?

 

Ich habe meinen ersten Tannhäuser wiedergefunden. Wie das? Der Reihe nach. Jena, irgendwann in den Sechzigern. Das Geraer Theater gastierte mit Tannhäuser. Nur, wann genau, warum spielt das wesentlich größere Ensemble in Jena, wo das inzwischen abgerissene Haus viel kleiner und beengter gewesen ist? Dazu noch mit einer Premiere? Wer sang überhaupt? Der Schüler hatte kein Geld für ein Programm übrig, er war fortan auf sein Gedächtnis angewiesen, das sich aber als unzuverlässig erwies. Worauf es aber ankam, die Vorstellung selbst in sehr schlichter Ausstattung, war eine Initialzündung. Sie ist der Beginn meiner lebenslangen Leidenschaft für Richard Wagner gewesen. Jetzt hilft ein ganz besonderes Buch der eigenen Erinnerung auf die Sprünge: Mein Tannhäuser ging am 23. Mai 1963, einem Himmelfahrtstag, über die Bühne. Das erklärt im Nachhinein auch, warum mein Vater damals so spendabel war und das Geld für Eintrittskarte und Bahnfahrt so ohne weiteres herausrückte. Gera musste nach Jena ausweichen, weil das eigene Haus durch einen Brand in Mitleidenschaft gezogen war. Die Titelrolle sang Willi Becker, die Elisabeth Eva Haßbecker, die Venus Editha Biena. Mit 25 Jahren gab Ekkehard Wlaschiha, dem eine große Karriere beschieden war, den Biterolf. 

Richard Wagner in der DDRDer Titel des Buches: Richard Wagner in der DDR – Versuch einer Bilanz, erschienen im Sax Verlag (ISBN 978-3-86729-096-8, 416 Seiten). Autor ist Werner P. Seiferth, ein ausgewiesener Fachmann mit gründlicher musikalischer Ausbildung, tätig als Sänger, Regisseur und Intendant. Einer, der sehr gut Bescheid weiß. Zu allererst ist dieses Buch eine Fleißarbeit, jahrelange gründliche Recherche. Es werden sämtliche Inszenierungen, beginnend in der sowjetischen Besatzungszone bis zum Ende der DDR, dokumentiert – mit Regisseuren, Dirigenten, Besetzungen, Zahlen der Aufführungen. Aus der Fülle dieses Material entsteht eine Chronologie der Inszenierungen, gegliedert nach Spielzeiten, eine Liste von Wagners Werken in der Reihenfolge ihres Erscheinens auf den Spielplänen sowie der jeweiligen Theater. Die Leser erfahren, welche Inszenierungen die so genannte Wende überlebt haben, welche Sänger wann und in welchen Rollen bei den Bayreuther Festspielen in Erscheinung getreten sind, was für Schallplatteneinspielungen es gab. Den Abschluss bildet ein umfängliches Künstlerverzeichnis mit Querverweisen und angereichert mit biographischen Details. 

Es braucht etwas Zeit, sich den umfangreichen Apparat nutzbar zu machen. Seifert belässt es nicht dabei, er stellt den Fakten einen großen Essay voran, der mehr ist als der Versuch einer Bilanz, wie es im Titel heißt. Es ist eine Bilanz. Zunächst fällt auf, dass es nach dem schmachvollen Ende des Nationalsozialismus im Osten Deutschlands nicht die geringsten Berührungsängste mit dem Werk Wagners gab, das in den vorangegangenen zwölf dunklen Jahren als Begleitmusik für kläglich gescheiterte Weltherrschaftsambitionen herhalten musste. In Chemnitz, später Karl-Marx-Stadt, wurde bereits im Februar 1946 Tannhäuser gegeben, alternativ von Rudolf Kempe musikalisch geleitet. Schwerin folgte noch im gleichen Jahr mit dem Fliegenden Holländer. Dann ging es Schlag auf Schlag. 1947 gab es bereits an acht Theatern Werke von Wagner, darunter gar Tristan und Isolde in Chemnitz (wieder mit Kempe), Leipzig und Berlin. Chemnitz übernahm eine Vorreiterrolle, denn bald gelangten dort auch Holländer und Walküre auf den Spielplan, die 1948 auch in Weimar mit Hermann Abendroth  gegeben wurde – lange bevor sich die großen Städte sich dazu entschließen konnten, dem Ring des Nibelungen, zumindest in Teilen, wieder eine Bühne zu geben.

Dessau, wo sich als Gegenstück zu Bayreuth bald eigene Richard-Wagner-Festwochen etablierten sollten, tritt erstmals 1950 mit gleich zwei Aufführungen, nämlich Tannhäuser und Holländer, in Erscheinung. Nie wieder sollte es so viele Inszenierungen geben wie in den fünfziger Jahren, in denen aber auch die kulturpolitische Debatte in Bewegung kam. Wagner berührte die unterschiedlichen Positionen beider deutscher Staaten im Machtpoker der Großmächte, der Kalte Krieg war im Gange, die Unschuld des Neubeginns hin. Dessau pflegte auf seiner großdimensionierten Bühne  einen traditionellen Stil, der den Erwartungen des Publikums entsprach. Fotos und zeitgenössische Berichte belegen das. Mit dem Erfolg wuchs auch der Argwohn. Die politische Großwetterlage hatte sich dahingehend gedreht, dass sich die DDR auf einen eigenen nationalen Weg besann, der die scharfe Abgrenzung vom westlichen Teil Deutschlands voraussetzt. In diese Auseinandersetzung  musste früher oder später auch Wagner geraten. Was ursprünglich das Verdienst von Dessau war, wurde zur offenen Flanke, zur Angriffsfläche.

Die gesteuerte überregionale Fachpresse stellte plötzlich die Fragen so: „Wahllose Wagnerei?“ – „Festspielhaus oder sozialistisches Theater?“ Seiferth zeichnet diese Entwicklung präzise nach, entreißt die historischen Fakten dem Vergessen, reiht sie in neue Zusammenhänge ein. Leser können ihre eigenen Erinnerungen an Hand gesicherten Archivmaterials überprüfen, Nachgeborene entdecken ein spannendes Kapitel  deutscher Kulturgeschichte. Es wird abermals deutlich, wie frühzeitig die DDR selbst ihren eigenen Untergang beförderte. Unmöglich, die Fülle des Material in dieser Besprechung zu würdigen, gebührend auf die späteren Jahre einzugehen, in denen Regisseure wir Joachim Herz, Götz Friedrich oder Harry Kupfer der internationalen Wagner-Rezeption aller gesellschaftlicher Enge zum Trotz entscheidende Impulse geben konnten.

1960 eine Besonderheit in Meiningen: Hans Sachs (Günther Hofmann), links Horst Krause als Beckmesser - Foto: Rauchstein

1960 noch eine Aufsehen erregende Besonderheit in Meiningen: Hans Sachs (Günther Hofmann) ohne Bart, links Horst Krause als Beckmesser – Foto: Rauchstein

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten, dass nur wenige Mitschnitte überliefert sind, wenngleich die DDR dazu neigte, gern vieles mitzuschneiden. Radioübertragungen fanden so gut wie nicht statt, weil sie immer auch unvorhersehbare Risiken in sich bargen. Der Fokus richtete sich auf Produktionen für den Rundfunk und die Schallplatte. Wie hat es denn nun geklungen in den frühen Jahren? Sänger, die das hochdramatische Fach so bedienen konnten wie einst Frida Leider gab es nicht mehr. Junge Talente wie Hanne-Lore Kuhse waren eben erst im Begriff, sich zu entfalten. In dieser Situation wurde oft unkonventionell besetzt oder im Westen und später in den sozialistischen Nachbarländern eingekauft. Vilma Fichtmüller, die Hochdramatische in Dessau, die Zeitzeugen eher als Figaro-Gräfin einordneten, hat zwar ihre eigenen Memoiren veröffentlicht, auf Tonträgern ist nichts gelangt. Es gibt in privaten Sammlungen – über die Jahre verstreut – Dessauer Szenen aus HolländerLohengrin, Meistersinger, Walküre und Siegfried, die ein erstaunliches Niveau haben, obwohl die meisten Mitwirkenden heute vergessen sind. Im Nachlass der Kuhse fanden sich zwei Szenen aus einem Holländer von 1956 unter Hans Wallat, die in Schwerin offenbar zu Dokumentationszwecken entstanden. Aus der Berliner Staatsoper Unter den Linden haben die Eröffnungspremiere der Meistersinger von 1955 und einige Ausschnitte aus dem szenisch Bayreuth nachempfundenen Ring akustisch überdauert. Der legendäre Leipziger Ring von Herz, der die Tür aufstieß auf ganz neue, der Entstehungszeit entspringende Sichtweisen, existiert nurmehr auf Fotos, in Arbeitsbüchern, in ganz wenigen Audiofetzen, in den Erinnerungen jener, die dabei waren – und jetzt auch in Seiferths Buch, das ich für eine der wichtigsten Veröffentlichungen um das Wagnerjahr 2013 herum halte. Und das nicht nur, weil ich meinen ganz persönlichen Tannhäuser wiedergefunden habe. Rüdiger Winter

Das große Foto oben zeigt Hanne-Lore Kuhse und den Heldentenor Ernst Gruber 1959 als Tristan und Isolde im Leipziger Behelfsopernhaus Dreilinden. Beide sind in einem Mitschnitt des Werkes aus Philadelphia auch dokumentiert. – Das Foto stammt von Helga Wallmüller.

  1. HELGA tschuschke

    Ich suche ein Mitglied meiner Familie Wolfgang Hansen.
    Er sang den Hans Sachs in den “ Meistersingern: ich finde ihn in keiner Auflistung der Wagnersänger in der DDR ! Meines Wissens sang er diese Partie bei den “ städtischen Bühnen Magdeburg in den sechziger Jahren! Können Sie mir helfen? Kommt er in Ihrem Buch “ Richard Wagner in der DDR “ vor? Es wäre nett, von Ihnen zu hören. H. TSCHUSCHKE

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  2. B. Kay

    Drr Herzsche Ring hat damals Zeichen gesetzt, wie ich noch einmal die Kritiken und in meinem Programmheft nachgelesen habe. Alle Kupferinszenierungen von Wagners Werk sind Meilensteine des Musiktheaters. Auch Erinnerungen an Proben zu den “ Meistersingern“ in der Komischen Oper, werden bleiben. Das Opernhaus war für mich der einzige Ort in dieser Diktatur, wo man frei und Mensch sein konnte.

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  3. B. Kay

    Mein erster Tannhäuser war im Grossen Haus, Dresden. Die Semperroper war zu der Zeit noch Ruine. Eine „Sternstunde des Musiktheszers“ mit Rainer Goldberg und Ingeborg Zobel. Inszenierung, Harry Kupfer. Unvergessen. Später zu den Festtagen in Berlin mit Rene Pape und wieder Kupfer.

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