In seiner theoretischen Pionier-Arbeit „Operette – Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst“ (1991, erweiterte Neuauflage 2004), die ein vergleichsloses Standardwerk geworden ist und ein „Sesam-öffne-dich!“ für alle an der Gattung ernsthaft Interessierten, appelliert Volker Klotz nachdrücklich an die Theatermacher, sich nicht auf das Dutzend immergleicher Stücke zu beschränken, sondern einmal auf Entdeckungsreise zu gehen und vergessene, einstmals erfolgreiche Meisterwerke des Genres wieder zugänglich zu machen und erneut auf ihre Bühnenwirksamkeit zu überprüfen.
Zwar blieb das Echo auf diesen Ruf bisher relativ bescheiden, doch immerhin wurde dem Autor ein paar Mal an kleinen und mittleren deutschsprachigen Bühnen die Gelegenheit gegeben, seine Vorstellungen als Bearbeiter, Dramaturg und – in einigen Fällen – Co-Regisseur in der Praxis umzusetzen. Zu diesen Produktionen legt er in seiner jüngsten Buch-Publikation („Es lebe: Die Operette – Anläufe, sie neuerlich zu erwecken!“) ausführliche und anschauliche Werkstattberichte vor, die Einblick geben in den Prozeß der Inszenierungen und der Bearbeitungen.
Diese Berichte zeigen, was Produktionsdramaturgie, richtig verstanden, im Musiktheater sein kann: nämlich mehr als theoretische Unterfütterung der praktischen Arbeit, sondern konkrete Zulieferung an szenischen Ideen auf der Grundlage der Stück-Analyse. Klotz macht seinen Regisseuren immer wieder Vorschläge, wie die gemeinsamen Konzeptionen bühnengerecht umzusetzen sind; dass nicht alle angenommen werden, liegt in der Natur einer solchen Zusammenarbeit. Spannend zu lesen, auch wenn man die fertigen Aufführungen nicht gesehen hat, ist es allemal, wie sich der Dramaturg die Lösung einzelner Szenen vorstellt, etwa im Ritter Blaubart an der Wiener Volksoper (2000, Inszenierung: Dominique Mentha). Dass die „Sachzwänge“ an den heutigen Theatern den engagierten Künstlern, die mehr wollen als nur den Markt bedienen, jede Menge Stolpersteine in den Weg legen, musste der Theaterneuling Klotz in einigen Fällen schmerzlich erfahren.
Der Start in die Theaterarbeit mit Franz von Suppés Fatinitza am Bremer Theater (1995) war ein offenbar sehr glücklicher, und Klotz windet dem früh verstorbenen Sänger und Regisseur Ernst Theo Richter (1949-2002) posthume Lorbeerkränze. Gemeinsam haben sie diese vergessene Operette quasi ausgegraben und damit einen guten Fund getan. Das an aberwitzigen Situationen reiche Stück spielt vor dem Hintergrund des Krimkrieges, steht im Duktus aber der Großherzogin von Gerolstein näher als dem Zigeunerbaron. Die Titelfigur nimmt den Rosenkavalier vorweg: Eine Frau spielt einen Mann, der sich als Frau verkleidet. Leutnant Wladimir geht im Kostüm der Tscherkessin Fatinitza auf erotische Eroberungstour. Einige Theater haben Fatinitza unterdessen nachgespielt, die Aufführung vom Lehár-Festival Bad Ischl (2006), bei cpo als Mitschnitt veröffentlicht, ist leider zu behäbig dirigiert und nicht in allen Positionen glücklich besetzt, trotzdem gibt sie einen kleinen Begriff von den komödiantischen und musikalischen Qualitäten des Stücks.
Es ist bemerkenswert, dass Klotz immer von der Musik her argumentiert, seine Aufgabe als Dramaturg und Bearbeiter in erster Linie darin sieht, die Texte auf das Niveau der Partituren zu heben. Vor allem bei den Auflösungen der Stücke gibt es da viel Handlungsbedarf. In den meisten Operetten haben die Autoren nicht viel Liebe und Sorgfalt auf den dritten Akt verwendet, da wird oft im Hauruck-Verfahren das erwartete Happy-End auf die Bühne gestemmt, ohne Rücksicht auf die dramatische Logik. Hier hat Klotz nun in einigen Fällen gründliche Abhilfe geschaffen, wobei die textlichen Ergänzungen die Aufnahme neuer Musiknummern (aus anderen Werken des jeweiligen Komponisten) nahe legten, wenn nicht nötig machten. Die dramaturgische Auflösung wird dabei vorzugsweise durch ein Spiel im Spiel herbeigeführt. Im Falle von Eine Nacht in Venedig (Münster 2005, Co-Regie mit Wolfgang Quetes) gibt der Karneval Anlaß für allerlei zusätzlichen Mummenschanz, der in ein mehrdeutig-frivoles Happy End mündet.
In der Dollarprinzessin (Nordhausen, 1998) endet das Stück in einer riesigen Zirkusshow (die den räumlichen Rahmen des kleinen Theaters sprengte). Hier finden nicht nur die widerspenstigen Liebenden zusammen, hier wird auch das kapitalistische System aus den Angeln gehoben, Lebensfreude triumphiert über Profitmaximierung: „Amerika, gib acht, es kracht!“ In Kálmáns Bajadere (Erfurt, 2003, Co-Regie mit Wolfgang Quetes) löst sich der Stückkonflikt während einer Vorstellung der Diva Odette. Durch eine Trickserei des Claque-Chefs Pimprinette erscheint der unglücklich verliebte Prinz Radjami auf der Bühne und vereint sich duettierend mit der Heißbegehrten.
Anders als in den genannten Beispielen handelt es sich bei Mephistos Höllenfahrt nicht um eine produktionsbezogene Bearbeitung, sondern um ein eigenständiges Stück auf der Grundlage des Librettos zur Operette Là-haut! (Da droben) von Maurice Yvain, der in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben ist. Über die Qualität der Musik gibt ein etwa halbstündiger Querschnitt in der Uraufführungsbesetzung von 1923 (mit Maurice Chevalier) Auskunft, der bei youtube eingestellt ist. Das Original handelt von einem Pariser Bourgeois, der im Traum in den Himmel kommt und von dort das frivole Treiben seiner Gattin betrachtet, was ihn zu sofortiger Rückkehr veranlasst. Klotz hat dem harmlosen Text ein literarisch-mythisches Gewand umgelegt und verquickt ihn im Sinne einer Offenbachiade mit dem Faust-Stoff. Das macht beim Lesen allerdings mehr Spaß als bisher auf der Bühne, denn die Regisseure der Lübecker Premiere (2001) – die ich selbst gesehen und rezensiert habe – und der Reprise in Kassel (2004) waren mit dem literarischen Artefakt hoffnungslos überfordert.
Den Werkstattberichten vorausgeschickt hat Klotz einige Essays zum Genre Operette, die teilweise bereits in Fachzeitschriften erschienen waren. Von besonderem gattungshistorischem Interesse sind dabei die Aufsätze „Cancan contra Stechschritt“ (Antimilitarismus mit Rückfällen im Ersten Weltkrieg) und „Der Widerspenstigen Lähmung“ (Operette in der Nazizeit). Sie zeigen, wie die ihrem Wesen nach aufmüpfige Gattung auch von autoritären Ideologien vereinnahmt werden kann.
Der Band schließt ab mit einem Bericht von einer „fruchtbaren Tagung“, gemeint ist ein Operetten-Kongress, der 1999 in Wien stattfand, auf dem Theaterpraktiker, Wissenschaftler und Journalisten referierend und diskutierend möglichst alle Aspekte des Themas auszuschöpfen versuchten, wobei es – wie ich mich gut erinnere – viele aufschlussreiche Beiträge nicht nur zur Wiener, sondern auch zur weniger bekannten englischen und französischen Operette sowie zur spanischen Zarzuela (Volker Klotz, Es lebe: Die Operette – Anläufe, sie neuerlich zu erwecken; 265 Seiten; Königshausen & Neumann, Würzburg 2014; ISBN 10: 3826050878 / ISBN 13: 9783826050879).
Ekkehard Pluta