Unhandlicher Wanderpreis

 

Das Buch kommt wie bestellt: Am Samstag ist hier Die Nacht in Venedig. „Von Strauß’ Karneval in Rom (1873) und Nacht in Venedig (1883) bis zu Kálmáns Faschingsfee (1917) wird der Rausch maskierter Selbstvergessenheit und Verbrüdertheit gefeiert als beglückende Anarchie, die dem zugleich ordentlichen und eigensüchtigen Geschäftsleben trotzt“, heißt es, gleich einer nachdrücklichen Empfehlung, auf Seite 394 der vierten, durchgesehenen und erweiterten Auflage von Volker Klotz‘ Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst im Studio Verlag Das liest man wortgleich auf Seite 341 in der im Piper Verlag 1991 erschienenen Erstausgabe. Bewährtes muss man nicht ändern. Und der Klotz hat sich seit einem Vierteljahrhundert bewährt. Er ist auch konkurrenzlos. Keiner hat sich so eingehend und fundiert mit der Gattung beschäftigt. Da gibt es nichts zu deuteln. Was Schreiber für die Oper, ist Klotz für die Operette, die kluge Verbindung von Gattungs- und Kulturgeschichte, Werkbeschreibung und Deutung. Was Klotz an unbekannteren Werken gesichtet und für gut befunden hat, darf unbesehen auf die Bühne gelangen. Natürlich fehlt auch das Bekannte nicht, wobei wir uns sicher sein dürfen, dass Klotz gängige Klischees und Meinungen zurechtrückt, beispielsweise beim Zigeunerbaron von Strauß von 1885, den er brandmarkt, da er „die tolldreisten Inversionen der Offenbachiade wieder zurecht“ rücke, „Der Zigeunerbaron kann als Wegweiser gelten für die Abwege der Gattung. Als bemerkenswertes Vorbild der schon mehrmals erwähnten Fälle von abwegiger, schlechter Operette“, immerhin räumt er ein, „Schlechte Operette aber muss nicht heißen, dass allemal die Musik, an für sich, missraten sei“. Missraten finde ich die Ausgabe im Studio Verlag (ISBN 978-3-89564-180-0), die mit 1400 Gramm fast 400 Gramm schwerer als die Piper-Aufgabe ist, doch deren breiter Rücken bereits beim zweiten Griff nach dem neuen Klotz splittert. Sie ist eine getreue Übernahme der Neuausgabe von 2004 bei Bärenreiter und stellt damit ausführlich 127 Werke gegenüber 106.

Und handlich ist die klobige Ausgabe auch nicht. Ich überlege, ob ich nicht bei meiner kompakteren Erstausgabe bleibe. Dafür müsste ich dann auf Albinis Baron Trenck verzichten, auf Genées Nanon, Granichstaedtens Der Orlow, Moisés Simons’ Toi c’ est moi, über das ich gerne vor drei Jahren anlässlich der Aufführung in Gera/ Altenburg gelesen hätte („Zu einer Zeit, als die Gattung Operette sich allenthalben schon selbst einschläferte, wirkten Simons’ Stücke erfrischend neuartig. Einerseits durch den großen Anteil genuiner Volksmusik der Antillen, wie sie bis dahin in europäischen Theatern nie vernommen worden waren. Andererseits durch die nahezu kammermusikalische Verarbeitung jenes klanglichen und rhythmischen Materials sowie die stringente Dramaturgie, es komödiantisch einzusetzen.“), verzichten auch auf Beispiele von Audran, Dellinger, Diaz Giles, Moreno Torrobo, Penella, Szirmai; von Huszka hätte ich mich über die immer noch in Budapest gespielte Baroness Lili gefreut, auch Abrahams plötzlich wieder allüberall geliebter Ball im Savoy verdiente einen Eintrag. In der kommenden Woche gibt es bei uns Die Csárdásfüstin, schauen wir mal, was der Klotz dazu meint: „Kálmáns weltweit populärstes Stück. Sie ist auch Inbegriff jener zwiespältigen Sorte von Operetten, die um den Ersten Weltkrieg herum den längst heruntergekommenen Spätfeudalismus zugleich entkräften und bekräftigen, verlachen und verklären.“

Der Klotz ist ein Solitär. Ob neu oder alt – der alte war mehr als ein Jahr vergriffen, wie der Autor in einer vierzeiligen Erläuterung zur Neuausgabe mitteilt – am Klotz wird man nicht  vorbeikommen.  Rolf Fath

  1. Dr. Gisela Schewe

    Ich schulde es meiner Druckerei, dass ich die Behauptung von Herrn Fath bezüglich der Ausstattung zurückweise. Das Buch ist auf Munken pur gedruckt, die Druckqualität ist hervorragend; die Weiterverarbeitung mit Fadenheftung und Hardcover handwerklich sorgfältig. Vermutlich wurde das Exemplar von Herrn Rolf Fath – Herausgeber des Reclam Opern- und Operettenführers, also eines Konkurrenzprodukts – auf dem Postweg beschädigt, er hat es aber nicht reklamiert. Im übrigen kann Pappe nicht splittern, allenfalls kann sie geknickt werden.

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  2. Kevin Clarke

    Sorry wenn ich das hier kritisch anmerke: Bei aller (großer) Bewunderung für Volker Klotz und die vielen sehr lesens- und bedenkenswerten Analysen in diesem Buch….. da hat sich in Sachen Forschung inzwischen sehr sehr sehr viel getan, und nun in der Rezension so zu tun, als sei da sonst weit und breit nicht, womit man diese Neuausgabe kritisch vergleichen könnte, ist schon etwas naiv. Und auch zu meinen „Was Klotz an unbekannteren Werken gesichtet und für gut befunden hat, darf unbesehen auf die Bühne gelangen“ ohne die Werturteile von Klotz zu hinterfragen und irgendwie historisch einzuordnen, ist nicht nur naiv, sondern weltfremd.

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