„Ästhetisch fragwürdiger Forschungsgegenstand“

Ein Schreck. 1300 Gramm. Gut 40 Aufsätze. Musiktheater im Fokus. Ein vergnüglichen Lese-Wochenende sieht anders aus. Als Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung ist das Musiktheater eben nicht bunter als andere Disziplinen. Kein Wort zu viel im Vorwort der Zum Gedenken an Gudrun und Heinz Becker gesammelten Texte. Immerhin so viel, dass der 2006 verstorbene Heinz Becker der „erste als Opernforscher ausgewiesene Musikwissenschaftler in einer akademischen Leitungsposition“ war, der das musikwissenschaftliche Institut der Ruhr-Universität als „Zentrum der Opernforschung aufgebaut hatte“, und dies obwohl „in maßgeblichen Kreisen der offiziellen Musikwissenschaft ‚Oper‘ als ästhetisch fragwürdiger Forschungsgegenstand“ galt. Mit dem Band Musiktheater im Fokus versuchen die Herausgeber an Beckers 1973 auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung gehaltenen Vortrag Zur Situation der Opernforschung anzuschließen.

Die Musikwissenschaftlerin Sabine Henze-Döhring/Foto BR

Die Musikwissenschaftlerin Sabine Henze-Döhring/Foto BR

Der Waschzettel verspricht, der Band sei (auch) eine Lektüre für Opernliebhaber  und Zuschauer. Das stimmt tatsächlich. Die Themen reichen vom Barock bis in die Gegenwart, von Händels Deidamia und einer Situationsbeschreibung der Barockoper  (Barockoper heute: ein Versuch über den Begriff der historisch informierten Aufführungspraxis von Clemens Risi) bis zur Kinderoper (Kinderoper: Spielräume der Phantasie von Isolde Schmid-Reiter), wobei gerade der letzte Text, der sich vor allem mit Hiller und Dinesu beschäftigt, aufgrund der rasanten Entwicklung dieses Genres schon etwas veraltet wirkt. Einbezogen werden auch – scheinbare – Randthemen wie Bühnentechnik (Bühnentechnik – eine verkannte Kunst? Oder: wer ist eigentlich Walter Huneke? Von Stefanie Rauch) oder das Programmheft, wobei Wolfgang Winterhagers Salome im Siegel der Programmhefte deutschsprachiger Opernbühnen von 1960 bis 1990 wie der gequälte Titel eines Proseminar-Aufsatzes anmutet, aber den fleißigen Opernbesucher in seinen vielfach gemachten Eindrücken bestätigt, dass die Hefte nach 1990 immer umfangreicher wurden, „sie gleichen mehr und mehr allumfassenden ‚Readern‘ hohen wissenschaftlichen Anspruchs ‚mit einem Stellenwert, der weit über die primäre Funktion der Begleitung durch eine Vorstellung hinausreicht“ bzw. „Die meisten perpetuieren dagegen einfach ein etabliertes und sattsam bekanntes Materialrepertoire…“

Musikwissenschaftler und Legende: Sieghard Döhring/Foto Koczyk

Musikwissenschaftler und Legende: Sieghart Döhring/Foto Koschyk

Interessant sind Thomas Betzwiesers Anmerkungen zum Problem des Kulturtransfers im Musiktheater im Zusammenhang mit Cherubinis Medea (Medea durchkomponiert?), die – nach der Wiederentdeckung durch Maria Callas – ausschließlich in Lachners übersetzter, italienischer Version Einzug ins Repertoire hielt. Ebenso Thomas Seedorfs Bemerkungen zu Tauber und Jeritza (‚Tauber-Lied‘ und Primadonnenoper) im Zusammenhang mit den Uraufführungen von Paganini und Die Ägyptische Helena: „Auch wenn kaum ein anderer Sänger an Taubers Interpretationen heranreichte, waren die Partien, die Tauber sang, doch so geschrieben, dass auch andere Tenöre sie ohne große Mühe bewältigen konnten“, wohingegen Franz Schalk feststelle: „Die Kreation der Helena durch Frau Jeritza barg von allem Anfang an die Gefahr, dass sich keine Nachfolgerin finden werde, die beim Publikum volles Ansehen genießt“. Kii-Ming Lo widmet sich Jean-Pierre Ponnelles Opernfilm Madama Butterfly, Jürgen Maehder schreibt über Wege, Nebenwege und Irrewege der italienischen Oper nach Puccini, Annette Schmidt-Schmierer über Das Bild der Stadt im Musiktheater mittels einer ‚Couleur locale‘ und Susanne Vill streift die die jüngste Aufführungsgeschichte der Turandot (Aspekte von Faszination und Grausamkeit des Fremdkulturellen in Giacomo Puccinis Oper Turandot). Man kann sich festlesen. Das Buch lässt sich durchaus auch als Opernführer der besonderen Art nutzen

Musiktheater im Fokus herausgegeben von Sieghart Döhring und Stefanie Rauch, 658 Seiten, Studio Verlag, ISBN 978-3-89564-161-9