Wann fährt die nächste U-Bahn?

 

„Hatte jemals jemand im Publikum eine U-Bahn gesehen?“, fragte Olive Moorfield zurecht nach der Deutschen Erstaufführung von Leonard Bernsteins Wonderful Town. Der furiose Erfolg von Kiss me Kate, mit dem Marcel Prawy das Wiener Publikum auf das neue Genre des Musicals einschworen hatte, war wenige Monate später im November 1956 mit Bernsteins Werk nicht zu wiederholen. „Diese Show“, so nochmals die Moorfield, „gehörte einfach nach York – das machte auch die Übersetzung viel schwieriger -, und wer die Stadt nicht kennt, der konnte auch mit Bernsteins Musical nichts anfangen!“ Das Wort Musical setzte Heinrich Kralik in der Presse damals übrigens noch in Anführungszeichen: „Musical“. Kralik, der einst für Mahler und Bruckner gekämpft hatte, war immer noch, wie den Pressestimmen dieser Werkmonographie zu entnehmen, noch der Aufgeschlossenste der Wiener Kritiker. Solches erfährt man, und vieles mehr, aus der Werkmonographie „…wie die Stadt schön wird“, welche die Staatsoperette Dresden ihrer Aufführung von Bernsteins Wonderful Town im Vorjahr beisteuerte (Herausgegeben von Heiko Cullmann und Michael Heinemann, Thelem Verlag, Dresden 2017, 160 Seiten, ISBN 9783945363638).

„Wonderful Town“: Der Broadway-Klassiker von Leonard Bernstein neu interpretiert von Matthias Davids in deutscher Sprache für die Staatsoperette Dresden mit Sarah Schütz, Olivia Delauré, Bryan Rothfuss, Marcus Günzel, Gerd Wiemer, Jannik Harneit, Thomas Bayer, Anne Schaab, Christopher Hemmans, Dietrich Seydlitz (Hitspan Records) – Direktverkauf bei der Staatsoperette Dresden

Volksopern-Dramaturg Christoph Wagner-Trenkwitz, der darin das Zustandekommen der deutschen Erstaufführung resümiert, verweist auch richtigerweise darauf, dass jedes amerikanische Musical eine „Prise New York“ enthalte. Das hatte Bernstein bereits 1944 mit On the Town bewiesen, dem 24stündigen Landurlaub dreier Matrosen, in dessen Verfilmung Frank Sinatra mit „New York, New York“ – allerdings nicht mit jenem „New York, New York“-Song mit der Musik von John Kander aus Martin Scorseses Film – der Stadt ein Denkmal setzte. Anders als das realistische On the Town von 1944 ist der Nachfolger Wonderful Town von 1953 ein nostalgisches Märchen.

Die Bedeutung New Yorks, von der Bernstein sagte, „Diese Stadt fesselt mich noch immer. Kein Wunder, dass ich dauernd Musik über sie schreibe“, für amerikanische Komponisten, Songwriter und Theatermacher von der Tin Pan Alley über die Gershwins und den Immigranten Weill bis zu Bernstein untersucht Gisela Maria Schubert in „Variationen über New York“: „Während On the Town in der unmittelbaren Gegenwart seiner Entstehungszeit spielt, versetzten die Autoren Wonderful Town, vorgegeben durch die literarische Vorlage … in die dreißiger Jahre zurück“. Die Entstehung des Stückes, dessen Grundlage die in The New Yorker veröffentlichten und für den Broadway 1940 dramatisierten My Sister Eileen Kurzgeschichten der Ruth McKenney bilden, worin sie schildert, wie sie Mitte der 30er Jahre mit ihrer Schwester Eileen von Ohio ins New Yorker Greenwich Village kam, ist so spannend zu lesen, wie die diversen verschlüsselten Anspielungen – die Schwestern landen in der Christopher Street – die im angespannten politischen Klima von den Besuchern durchaus verstanden wurden. So interessant die Lebensgeschichte der wirklichen Schwestern Ruth und Eileen ist auch die Tatsache, dass die Hollywood-Veteranin Rosalind Russell, die bereits im Film mitgewirkt hatte, und deren Karriere ihren Gipfel überschritten hatte nun auch für das Broadway-Musical zur Verfügung stand. Ihre Schwester spielte eine junge Sopranistin, die gerade die Juilliard School absolviert hatte. Man liest sich fest bei den Texten über das amerikanische Musiktheater an und für sich und das Musical insbesondere sowie den Einblicken in die Werkstatt Bernsteins und seiner Textdichter. Sehr lesenswert.

Das ist alles andere als ein 160seitiges Programmheft, wie ich erwartet hatte. Toll, dass sich das Gelesene in dem Mitschnitt eines Konzerts des London Symphony Orchestra unter Simon Rattle vom Dezember 2017 (LSO 0813) nachprüfen und erleben lässt. Rattle stürzt sich mit dem Feuereifer eines Michael Tilson Thomas in die Musik, die vom Orchester mehr als nur broadwaytaugliches Begleiten verlang. Das klingt so witzig und animierend, dass man es gerne ein zweites Mal hört. Schade, dass es keine Texte gibt und die Besetzung der 19 Nummern nicht angegeben ist. Klar die Erinnerung an „Ohio“ ist ein Duett der beiden Schwestern Ruth und Eileen (Alysha Umphress und Danielle de Niese) in allerbester Musical-Manier, etwas altmodisch doch nicht unraffiniert. So wie auch „One hundred easy ways to lose a Man“, das Bernstein für Russell maßschneiderte, die angeblich keine Melodie halten konnte. Alysha Umphress würde das fraglos gelingen; sie singt dazu mit einer ausdruckvollen, durchaus drastisch-lässigen Stimme, so auch in ihrer zweiten Solonummer „Swing!“, während de Niese das liebliche koloraturenzarte Gegenstück dazu bildet. Aus dem Ensemble sind Duncan Rock als Fußballspieler Wreck mit „Pass the Football“ zu nennen, dazu die Diner-Gäste Bob Baker (Nathan Gunn), Frank (Ashley Riches) und Chick (Stephen John Davis), welche die Schwestern in der Hoffnung auf einen Job zum Essen in ihre kleine Wohnung geladen haben. Nummer 10 nennt Bernstein „Conversation Piece“. Das könnte über nahezu allen Nummern stehen, denn stets handelt es sich um gesungene oder getanzte Konversation – etwa in der „Conga“ der brasilianischen Kadetten – dem naiven Duett „It’s Love“, in dem Eileen dem von beiden Schwestern geliebten Bob hilft, seine Gefühle für Ruth zu gestehen, oder in den letzten Nummern des zweiten Aktes, wo sich Blues, Ragtime und Foxtrott zu virtuosen Szenen mischen und sich Ruth eine glänzende Zukunft eröffnet. Bernstein ist mitten drin im brodelnden Greenwich Village. Kaum zu glauben, dass der junge Bernstein bei einem frühen Besuch von der Stadt angewidert war, von der „Verdorbenheit der Greenwich-Village-Bewohner“ und den „frenetischen Versuchen, die Atmosphäre der Nachkriegs-Bohème zu bewahren“.   Rolf Fath