Nicht von dem polemischen Vorwort von Jürgen Flimm zu Christoph Schwandts Buch über Carl Maria von Weber in seiner Zeit im Schott Verlag abschrecken lassen sollte sich der potentielle Leser, denn dieses steht in einem starken Kontrast zu dem mit Fleiß, Akribie, Objektivität und trotzdem mit wahrnehmbarer Zuneigung zum Sujet verfassten und nicht weniger als 610 Seiten umfassenden Werk. Flimm rennt offene Türen ein, wenn er, vollkommen ahistorisch denkend, den Komponisten gegenüber Wagners Äußerung glaubt in Schutz nehmen zu müssen, nach der es keinen „deutscheren Musiker“ gegeben habe als Weber. Die zweite Beisetzung des in London verstorbenen Komponisten fand 1844 in Dresden statt, vier Jahre vor der Märzrevolution, als die bereits in den Befreiungskriegen erwachten Gedanken an die deutsche Einheit von neuem relevant wurden. Nicht in der rechten Ecke stand also damals der Nationalgedanke, sondern, urteilt man überhaupt derart schematisch, ganz links. Und wenn der Verfasser des Vorworts feststellt, Weber habe Körners Gedicht über Lützows Freikorps erst nach der Völkerschlacht bei Leipzig vertont, dann heiß das noch lange nicht, dass dies vor dem Ende der Befreiungskriege war. Von wegen „Nachhall“ – die Schlacht bei Waterloo fand erst ein Jahr nach der Vertonung statt. „Ohne dieses dumme, deutsche Nationalgedöns“ kommt wohl auch entgegen Flimms Meinung nicht nur Freyers Inszenierung des Freischütz in Stuttgart aus, und Weber ist nicht nur ein „vermeintlicher Deutscher“, wie er meint, sondern zumindest einer, der sich vehement für die deutsche Oper eingesetzt hat, wie zahlreiche Zitate in dem vorliegenden Buch beweisen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er in Prag oder London wirkte, den Oberon auf ein englisches Textbuch vertonte.
Doch nun zum Buch selbst. Es nennt sich Carl Maria von Weber in seiner Zeit – eine Biografie. Man stutzt bei dem kleinen Wort „in“, erwartet eigentlich ein „und“, stellt aber schnell fest, dass es sich nicht um eine reine Biographie handelt, obwohl fast jeder Tag und jedes kleinste Ereignis im Leben des Komponisten dokumentiert wird, sondern dass man Weber als Leser auch als ein Produkt seiner Zeit erlebt. Das Buch gliedert sich chronologisch, die Kapitelüberschriften nennen Orte seines Wirkens wie Prag, Wien, Berlin, Dresden, London und zeigen dem Leser, wie schwierig das Leben für eine Künstlerfamilie, aus der Weber stammte, im Deutschland vieler Klein- und Kleinststaaten war, besonders wenn dazu noch Krieg herrschte, die Bündniskonstellationen schnell wechselten. Eine thematische Gliederung wäre natürlich auch denkbar gewesen und hätte es dem Leser erleichtert, das Entstehen von Werken wie des Freischütz zu verfolgen, von dem nun immer einmal wieder, aber nicht zusammenhängend berichtet wird. So aber gibt es immer wieder Themenwechsel, je nachdem, was Weber gerade erlebt, erleidet, komponiert, man erfährt etwas über die damaligen Verkehrsbedingungen, Krankheitsbehandlungen, Erfindungen im Druckereigewerbe, das Theaterwesen, Qualitäten einzelner Sänger, bekommt einen Überblick über das gesamte politische und noch mehr geistige Leben im zersplitterten Deutschland. Aber nicht nur die Fülle der Sachgebiete ist immens, man lernt auch alle Freunde und Feinde Webers sehr ausführlich kennen, die gesamte weitverzweigte Verwandtschaft und ihre jeweiligen Schicksale. Das ist oft interessant, so wenn es um die Beziehungen zur Familie Beer in Berlin geht, oft aber dazu angetan, den Leser den Faden, der ihn durch Leben und Werk des Komponisten leiten soll, verlieren zu lassen. Besonders die Genealogie der deutschen Fürstenhäuser ist wahrscheinlich für den Durchschnittsleser von geringem Interesse, von größerem die Mitteilungen über das Urheberrecht oder die Tatsache, dass Weber vor allem mit spontan angesetzten Konzerten auf Reisen zeitweise sein Geld verdiente.
Man kann oft schmunzeln, so wenn man erfährt, dass hohe Herrschaften lieber immerhin goldene Dosen verschenkten, statt die Künstler mit Barem zu entlohnen, weniger schon über Anweisungen zum Gebrauch der Waschmaschine oder den Bericht über das Zahnen des Weber-Sohnes. Wertvoll für den Leser sind die Interpretationen der Musik Webers, interessant für viele wohl auch die ausführlichen Inhaltsangaben der Opern. Spekulieren kann man darüber, wieweit Webers Eintreten für die deutsche Oper gegenüber der italienischen und französischen von eigenem Interesse motiviert und gelenkt war. Dass Antisemitisches im Hause Weber trotz der überaus herzlichen Beziehung zu den Eltern Giacomo Meyerbeers zu hören war, sollte man vor dem Hintergrund allgemeiner Witzelei in der damaligen Zeit über das Thema sehen, und auch der Autor begeht nicht den Fehler, sich in dieser Hinsicht ahistorisch zu verhalten.
Höchstem wissenschaftlichem Anspruch genügt das Buch durch einen umfangreichen kritischen Apparat, Anmerkungen auf immerhin 25 Seiten, eine Auswahlbiographie, ein Verzeichnis der im Text erwähnten Kompositionen, getrennt nach Gattungen, ein Personenregister und einen Abbildungsnachweis. Zahlreichen Stiche von Orten, an denen Weber wirkte, und Personen, die seinen Weg kreuzten, sorgen für Anschaulichkeit.
Ein Buch nicht nur von derartigem Umfang, sondern auch derartiger Vielseitigkeit und Gründlichkeit, ist schon beinahe ein Lebenswerk. Der Leser sollte sich dafür viel Zeit nehmen und dazu die Bereitschaft, sich auf viele unterschiedliche Themen einzulassen. Dann wird er um viel Wissen, Verständnis und die Fähigkeit, Webers Musik noch mehr als bisher schon zu genießen, reicher sein (Schott Verlag, 608 Seiten, ISBN 978 3 7957 0820 7).
Ingrid Wanja