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Dass man einem Werk seine ganz eigene Regie-Handschrift aufdrücken kann, ohne es zu entstellen, stattdessen dem Zuschauer neue Möglichkeiten der Interpretation eröffnet, ohne sie ihm aufzuzwingen, beweist Damiano Michieletto mit seiner Inszenierung von Janáčeks Jenufa an der Staatsoper Berlin zu Corona-Zeiten, so dass nicht exakt auszumachen ist, welche Einfälle der Krisenzeit geschuldet und welche davon unabhängig dem Gehirn des Regisseurs entsprungen sind. So tritt der Chor nicht auf der Bühne auf, sondern ist, ganz in ziviles Schwarz gekleidet, über den gesamten Zuschauerraum hin verstreut und so kein fröhliches Fest anlässlich der Heimkehr Stewas von der Musterung möglich, was aber wiederum dazu passt, dass die Beziehungen zwischen den Personen äußerst unterkühlt sind, sie sich in einem septisch erscheinenden, Kälte ausstrahlenden Raum, wie aus Eis herausgeschnitten, befinden, von dessen Decke sich allmählich, aber unaufhaltsam ein Eisblock herabsenkt, aus dem es zunehmend tropft, so dass sich auf dem Fußboden ein See bildet, aus dem im letzten Akt das von der Küsterin ertränkte Kind oder zumindest die Decke, in die es gehüllt war, geborgen wird (Bühne Paolo Fantin). Lediglich einige Bänke und ein mit Kerzen bestückter Altar bilden das Bühnenbild auch für den ersten Akt, zeitlos und keinerlei geographische Orientierung, dafür aber einiges an Charakterisierung bietend sind die Kostüme von Carla Teti. Stewa schleppt ein Teil herein, dass wie ein Koffer aussieht, sich dann aber als Eisblock entpuppt, immer wieder kneten die Personen kleinere Ausgaben davon in den Händen, als müssten sie sich an der Eiseskälte, die sie umgibt, abarbeiten. Erst ganz zum Schluss und dann doch unvermittelt fällt gleißendes Licht auf die Bühne, und das Paar Jenufa- Laca schreitet in das Leuchten und damit wohl in eine bessere Zukunft hinein, während die Küsterin unter dem tropfenden Eisklumpen zurückbleibt, der sie in absehbarer Zeit zu erdrücken droht. Es gibt zwar Ungereimtheiten, so die Wiege mit dem Kind auf der Bühne, während Laca die Lüge von dessen Hinscheiden aufgetischt wird, aber insgesamt ist dies doch eine wunderbare Produktion von poetischer Eiseskälte oder voll eiseskalter Poesie, an der sich die farbige, hochdramatische Musik Janaceks unter Simon Rattle geradezu wütend abarbeitet. Im Orchestergraben waren übrigens Eingriffe bei den Holzbläsern der Pandemie geschuldet.
Nicht besser besetzt sein könnte das Terzett der Frauen mit einer so optisch schmalen wie akustisch warm und begütigend klingenden Mezzosopranistin, wie sie Hanna Schwarz ist, die die Buryjovka singt und deren Bühnenpräsenz imponierend ist. Sie wie auch die Küsterin von Evelyn Herlitzius sind auch in der Jenufa-Produktion der Deutschen Oper zu erleben gewesen, und der hochdramatische Sopran kann gleichermaßen herrisch auftrumpfen wie wunderschöne flehende Töne gegenüber den beiden Heiratskandidaten Stewa und Laca produzieren, und der darstellerische Einsatz der Herlitzius zwischen selbstherrlichem Aufbegehren und demütigem Sichfügen ist, wie von ihren Wagnerrollen bekannt, ein nicht an Intensität zu übertreffender. Optisch wie akustisch von strahlender Blondheit ist die Jenufa von Camilla Nylund, zwar kaum entstellt durch die Narbe, dafür sich aber der Haarpracht mit hektischen Scherenschnitten entledigend und atemberaubend intensiv nicht nur in der Szene, in der sie, dem roten Faden folgend, das tote Kind entdeckt.
Sehr viel schärfer, als man es sonst erlebt, sind die beiden Liebhaber charakterisiert. Ladislav Elgr ist ein brutaler, durch und durch unsympathischer Steva mit scharfem slawischem Tenor, Stuart Skelton ein tapsiger Bär von Laca mit auftrumpfendem Heldentenor. Jan Martinek gibt den bassgewaltigen Altgesell, Evelin Novak eine spritzige Karolka, Adriane Queiroz eine Barena mit italienisch geschulter Stimme und Victoria Randem einen Jano mit kristallklarem Sopran.
Die Aufführung erlebte als Stream ihre Premiere und sollte unbedingt auch vor Publikum zu genießen sein, wobei man gespannt darauf sein kann, was mit dem Chor passiert, wenn das Publikum sich den Saal zurückerobert (C Major 760504). Ingrid Wanja