Glanzvolles Dokument

 

Nicht gerade Begeisterung hatte sich im Jahr 2004 in Italien breit gemacht, als bekannt wurde, Riccardo Muti würde die sehnlichst erwartete Wiedereröffnung der Scala nach jahrelanger Renovierung nicht mit Verdi oder Puccini, sondern mit Antonio Salieris bis dahin unbekannter Oper Europa Riconosciuta feiern. Und nicht fröhlicher wurde man wahrscheinlich beim Blick auf die fast kahle Bühne, obwohl man vom Ausstatter Pier Luigi Pizzi erfahrungsgemäß Prunkvolles hätte erwarten können. Das gab es erst bei der  Balletteinlage (nur eine anstelle der zwei bei der Uraufführung der Oper und damit der Einweihung des Hauses als Nuovo Regio Ducal Teatro 1778) am Ende des ersten Akts. Ein grauer Rahmen senkt und hebt sich wieder über der Bühne, ein Kahn bricht als Zeichen des Schiffbruchs auseinander, Treppen werden hin- und hergefahren, stilisierte Zypressen täuschen einen Garten vor, riesige Gitter suggerieren ein modern anmutendes Gefängnis. Nur einmal lässt Regisseur Luca Ronconi Prächtiges zu, wenn auf vielen kleinen Drehbühnen kostbar gewandete Krieger auf naturalistisch wirkenden Rossen kämpferisches Geschehen erahnen lassen. Von den Solisten hat nur die ehrgeizige, nach Thron und  Liebhaber gierende Semele sich in puncto Prächtigkeit steigernde, moderne Kostüme. Die übrigen tragen Antikes, der von beiden Damen geliebte Isséo königliches Rubinrot, die standhafte, verzichtsbereite Europa keusches Weiß.

Die Oper, über die man im Booklet viersprachig nur, was den Inhalt betrifft, informiert wird, enthält zwei der schwierigsten Koloratursopranpartien überhaupt. Zu ihnen gehört die Titelpartie, und es dürfte eine weitere Herausforderung für das nationalbewusste Publikum gewesen sein, dass sie mit einer Deutschen, Diana Damrau, damals noch am Anfang ihrer internationalen Karriere, besetzt worden war. Die Sängerin sieht bezaubernd aus, spielt mit Anmut und Würde und singt ihre halsbrecherischen Arien nicht nur souverän, sondern gibt den sanfter als bei der Rivalin klingenden Koloraturen auch einen interpretatorischen Sinn. Am Schluss der Oper darf sie auch das dramatische Potential ihrer Stimme vorführen. Puppiger und soubrettiger als sie wirkt die Gegenspielerin Semele, gesungen von Desirée Rancatore, die Koloraturen, mit denen auch ihre Rolle gespickt ist, klingen nicht weniger souverän, aber schärfer, was für die Interpretation der ehrgeizigen Dame durchaus Sinn macht. Pikanterweise sang drei Jahre später auf ihrer CD Damrau auch die schwierigste Arie ihrer Rivalin. Einen wunderbaren Mezzosopran satter Farben, geschmeidig und von dunklem Glockenton hat die stattliche und damit für Hosenrollen gut geeignete Daniela Barcellona für den doppelt geliebten und ebenfalls Verzicht übenden Isséo, Genia Kühmeier singt mit hellerer und weniger prächtiger Stimme korrekt den König von Kreta, der Europa einst geraubt und zwangsverheiratet hat. Ihr „Ah voi Dei“ kann aber durchaus mit den Leistungen der Kollegen mithalten. Giuseppe Sabbatini, den man trotz seiner besonderen Musikalität nicht so besonders gern in den Rollen feuriger Liebhaber erlebte, ist mit seinem dunkel getönten Tenor guter Mittellage genau richtig am Platz als intrigierender Egisto, der seine gerechte Strafe erhält.

Der Chor ist auf die Unterbühne verbannt und beweist rein akustisch seine besonderen Qualitäten, so mit einem an den Priesterchor der Zauberflöte erinnerndem „O Temis immortale“. Riccardo Muti und das Orchester der Scala, die er wenig später im Zorn verließ, machen mit dem entsprechenden Erfolg die Aufführung der Europa Riconosciuta zu ihrer Herzensangelegenheit und wirken mit großem Engagement. Ein ganz junger Roberto Bolle und Alessandra Ferri sind das gefeierte Solistenpaar in der Balletteinlage (DVD Erato 0190295889982). Ingrid Wanja