Unverkennbar vom ersten Ton an

Die Karriere vor der Karriere ist für mich das spannendste Kapitel in der künstlerischen Biographie von Christa Ludwig, die sich über fast ein halbes Jahrhundert erstreckt. Noch vor ihrem Engagement an das Mutterhaus des Gesangs, die Wiener Staatsoper, ließ sie in Frankfurt, Darmstadt und Hannover aufhorchen, so dass sie für etliche Operneinspielungen beim Rundfunk herangezogen wurde. Das waren in der Regel keine tragenden Rollen. Und doch ist es vom ersten Ton an Christa Ludwig. Unverwechselbar. Von der frühen Stimme zur späten ist so gut wie kein Unterschied. Nicht mal technisch. Bei kaum einer anderen Sängerin, die durch Gestaltungskraft, Individualität und einmaliges Timbre berühmt wurde, ist dieses Phänomen in dieser Ausprägung zu beobachten. Die ersten Aufnahmen lagen Jahrzehnte in den Archiven und sind erst nach Verstreichen von Schutzfristen bei kleinen Labels an die Öffentlichkeit gelangt.  In ihren Erinnerungen „ … und ich wäre so gern Primadonna gewesen“  lässt sich die Ludwig über ihren Beginn eher anekdotisch aus.

In einer seiner 10-CD-Boxen hat das Label The Intense Media / Documents endlich den Anfang dieser beispiellosen Karriere in den Kontext zu den Höhepunkten der Laufbahn gesetzt: Christa Ludwig – Die ersten Aufnahmen – Die größten Welterfolge (600151). Obwohl an Aufnahmen kein Mangel ist auf dem aktuellen Musikmarkt, eine Gesamtschau hat bisher noch niemand versucht. Es ist ein Versuch. Und Versuche haben ihre Grenzen. Stimmen alle Aufnahmedaten? Die Fledermaus von Strauß, die Ludwig singt den Orlofsky, wird als erste Radioaufnahme ausgegeben, die 1950 wie die meisten frühen Dokumente beim Hessischen Rundfunk entstand.  Dagegen spricht die Wellgunde in einem Rheingold von 1948, dem eine weitere Einspielung mit derselben Rolle zwei Jahre später folgte. 1949 gilt als Produktionsjahr für Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer mit der Ludwig als Königin. Dann erst der Orlofsky, der übrigens auch die erste Bühnenrolle in Frankfurt gewesen ist. Das berühmte Auftrittslied „Ich lade gern mir Gäste ein“ ist in der Box zu hören – üppig, frivol, androgyn, gar nicht wie Fünfziger Jahre. Für heutige Ohren ist die Szene etwas zu breit angelegt, was der Sängerin aber zustatten kommt. Bei dieser Rücknahme des Tempos kann sie nämlich den dunklen Mezzo mit der vollendeten Verblendung der Register herrlich ausbreiten. Auch nach so lange Zeit ist es kaum zu glauben, dass hier eine Anfängerin zu Gange sein soll.

Um diesen Szenenausschnitt ranken sich andere Aufgaben wie die Bertalda in Lortzings Undine von 1951, der Dimitrij in Fedora von Giordano und vom selben Komponisten die Madelon in André Chenier, eine der ganz wenigen frühen Rollen, die sie 1984 in der Decca-Produktion unter Riccardo Chailly wiederholte. Müsste ich mich entscheiden, meine Wahl fiel auf das Jahr 1950. Schade, dass die Box nicht mehr enthält – denn es gibt noch mehr wie den Siebel in Faust (1951), die Stimme des Falken in Die Frau ohne Schatten (1950), die Tempelsängerin in Aida (1952), die Frau des Dorfrichters in Jenufa (1953), die Rosalia in Tiefland (1953) – alles Hessischer Rundfunk. Noch in Frankfurt wurde 1952 auch das Requiem von Mozart produziert. In drei Ausschnitten sind unter Otto Matzerath  neben der Ludwig Anny Schlemm, Franz Fehringer und Aage Poulsen, ein Däne, der in Frankfurt engagiert war und von dem es kaum andere Aufnahmen geben dürfte, zu hören.

Drei CDs – nicht immer randvoll – sind den Liedern vorbehalten. Sie stammen aus den Jahren 1957 und 1958, als die Ludwig in ihrem Fach ganz oben angelangt war. Frühere Aufnahmen sind nicht bekannt. Die meisten Titel wurden oft publiziert. Seltenheitswert haben die Lieder eines fahrenden Gesellen in einem Livemitschnitt mit dem Philharmonia Orchestra unter André Cluytens. Mahler ist neben Johannes Brahms die Domäne der Liedsängerin Ludwig als hätten beide nur für sie komponiert. Wer Schumanns Frauenliebe und -leben mit Gerald Moore am Klavier noch nicht besitzen sollte, kann sich darüber freuen. Die Ludwig ist nicht so schlicht und empfindsam wie die unerreichte Sena Jurinac, dafür dramatischer. Was noch? Mit Così fan tutte (die Wiener Decca-Einspielung unter Böhm) und Figaro (Salzburg 1957 ebenfalls unter Böhm) sind zwei große Mozart-Opern, die man mit dieser Sängerin verbindet, auszugsweise im Programm. Lässlich, weil seit eh und je zu haben, ist eine ganze CD mit Rosenkavalier-Szenen aus der EMI-Einspielung unter Karajan. Für mich eine der Sternstunden des Operngesangs auf Platte sind die zwanzig Minuten Lohengrin aus dem zweiten Aufzug, beginnend mit „Euch Lüften, die mein Klagen“ mit Christa Ludwig (Ortrud) und Elisabeth Schwarzkopf (Elsa). Beide zelebrieren die Szene mit einem Höchstmaß an Zusammenspiel, wie es besser nicht geht.

Rüdiger Winter