Schwanengesänge und Kriegserlebnisse

 

Bei der von George Butterworth vertonten sechs Gedichten, die A.E. Housman in seiner 1896 herausgegebenen Sammlung A Shropshire Lad veröffentlichte, rückt Ian Bostridge ganz nahe an uns heran als wolle er uns die von Wehmut und Todesnähe gezeichneten Bilder aus dem englischen Landleben ins Ohr flüstern („Und jetzt, da ich siebzig bin, werde ich nie wieder zwanzig sein“/“Now, of my threescore years and ten, twenty will not come again“). Diese zarten, feinsinnigen Lieder aus den Jahren 1911 und 1912 eröffnen sein Programm Requiem. The Pity of War, mit dem er an das Ende des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erinnert. Mit ernsten Gesichtern und heruntergezogenen Mundwinkeln stehen Bostridge und Antonio Pappano wie zwei zu Statuen Erstarrte vor einer grauen Betonwand (Warner Classics 0190295661564).

Eine Aufführung von Brittens War Requiem und die in Wilfred Owens darin verarbeiten Schützengraben-Erfahrung regte Ian Bostridge zu diesem Programm über den Ersten Weltkrieg an. „Ich dachte an einige Kunstlieder, die ich bereits gesungen habe, und daran, in welcher Weise sie sich direkt oder indirekt auf den Ersten Weltkrieg beziehen“ schreibt der Tenor in seiner Einleitung, die im üppig gestalteten Büchlein ebenso wie sämtliche Liedtexte (englisch, deutsch, französisch) in eine reiche Fotosammlung eingebettet ist. Butterworth starb 1916 in der Schlacht an der Somme. Im Jahr zuvor war Rudi Stephan an der Front in Galizien gefallen. Seine 1913/14 entstandenen sechs Lieder Ich will dir singen ein Hohelied auf Gedichte der Dresdner Offizierstochter Gertrud von Schlieben, die unter dem Pseudonym Gerda von Robertus veröffentlichte, sind erotische, sinnliche Miniaturen, denen es bei Bostridge an sprachlicher Distinktion fehlt. Scharf akzentuiert singt er dagegen Kurt Weills Four Walt Whitman Songs, die sich auf den Amerikanischen Bürgerkrieg beziehen. In „O Captain, my Captain“ steigert Bostridge Weills Songstil zu einer aufrüttelnden, wie mit zwei Stimmen vorgetragenen Anklage („Exult O shores, and ring O bells“), in der die Konsonanten wie gehämmert stehen oder schier ausgespuckt werden. Auf vertrautem Terrain wandeln Bostridge und Antonio Pappano, deren musikalische Partnerschaft sich hier feiern kann, bei drei Wunderhorn-Liedern Mahlers, wo sich Inhalt, Ausdruck und vokale Schwelgerei in den langen Phrasen ergänzen.

 

Eine Begegnung hat der inzwischen für seine Tätigkeiten vielfach ausgezeichnete Konzert- und Opernsänger und Gesangsprofessor Christian Immler nie vergessen. Als 14jähriger durfte der junge Christian 1984 Leonard Bernstein im Großen Festspielhaus das Solo aus Mahlers Vierter vorsingen. Ein hübsches Foto aus dem Familienalbum, abgedruckt im Beiheft der 2016 und 2017 im Studio 2 des Bayerischen Rundfunks aufgenommenen Swan Songs (Avi-music 8553402), ist mehr als eine Erinnerung, schlägt es doch irgendwie den Bogen zu letzten der vier Liedgruppen, Bernseins Arias and Barcarolles. „Was bleibt?“ fragt Immler, „und inwiefern sind sich der Komponisten zum Zeitpunkt der Komposition der Dringlichkeit dieser Frage bewusst? Dies scheinen mir die zentralen Themen eines sogenannten Schwanengesangs zu sein.“ Immler gelingt sein Einleitungstext so eloquent und überzeugend, dass es eines zusätzlichen Textes gar nicht mehr bedurft hätte und man stattdessen lieber die Texte – zumindest im Fall der größtenteils von Bernstein stammenden Ehe-Szenen zu den acht Abschnitten der Arias and Barcarolles – gelesen hätte. Die Sechs Heine-Vertonungen aus Schuberts Schwanengesang zeigen Immler als versierten Konzertsänger, der sich mit dunkelschlankem Bariton um Textdeutlichkeit und Ausdruck bemüht und die Lieder mit düster gruftiger Atmosphäre versieht. In Vier ernste Gesänge op. 121 von Johannes Brahms geht es Immler mehr um schöne Linien zu dem von Christoph Berner fast sinfonisch entworfenen Klavierpart. In „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh“ klingen manche Zeilen in ihrer weichen und eindringlichen Wort-Ton-Behandlung wie von Hermann Prey, mit dem Nachteil einer dann plötzlich ins larmoyant leiernde umschlagenden Haltung. Den drei Barber-Lieder op. 45 von 1972 merkt man Immlers tiefe Vertrautheit an, sie „haben mich schon seit meiner Studienzeit wegen ihrer Vielschichtigkeit, textlichen Finesse und melancholisch-morbiden Schönheit angesprochen“. Die Freude und Lust in der Umsetzung der u.a. von Keller und Heym stammenden Texte ist Immlers Interpretation der einst für Fischer-Dieskau geschriebenen Lieder stets anzumerken. Etwas hölzern agieren Immler und die Mezzosopranistin Anna Stéphany – begleitet von den Pianisten Danny Driver (der auch bei den Barber-Songs am Flügel saß) und Silvia Fraser – in den Arias and Barcarolles, mit deren Titel Bernstein einen Ausspruch von Präsident Eisenhower aufgreift, der ihm offenbar so drollig erschien, dass er sich bei diesem zwei Jahre vor seinem Tod komponierten Szenen für zwei Solostimmen und Klavierduo noch daran erinnerte. Nachdem Bernstein 1960 im Weißen Haus Mozart und Gershwin gespielt hatte, meinte der Präsident, er möge Musik mit einem Thema, nicht all diese Arien und Barcarolen.

Die acht Szenen, die am Beispiel eines Paares Aspekte der Liebe umkreisen, funkeln und sprühen, mischen Modernes und Spätromantisches, Scat-Singing und Volkslied, Klezmer und Blues; es beginnt mit einem innigen „I love you“ und endet mit dem gemeinsamen Summen im fast dreiminütigen „Postlude“. Die Ironie, der Witz, aber auch die sentimentalen Passagen und die walzende Melancholie, die beispielsweise Frederica von Stade und Thomas Hampson in der von Michael Tilson Thomas dirigierten Orchesterversion auf der alten DG-Aufnahme vermitteln, darf man bei Christian Immler und Anna  Stéphany nicht erwarten.

 

Während Weill im amerikanischen Exil am Broadway an seine europäische Karriere anknüpfte, setzte der zwei Jahre ältere Hanns Eisler auf Hollywood. Nicht ohne Erfolg. Capriccio legt jetzt eine Einspielung seltener Filmmusiken Eislers vor (C5289), die ein wenig wirkt, als sei sie für ein Seminar an der Filmhochschule gemacht, da sie auch einen 14-Sekunden Schnipsel enthält. Er stammt aus der Musik zum Fritz Langs Anti-Nazi-Film Hangmen Also Die/ Auch Henker müssen sterben, die Eisler eine Oscar-Nominierung einbrachte und an dessen Drehbuch auch Brecht beteiligt war. Die Titelmusik ist großes Kino, also spätromantisch und leidenschaftlich. Obwohl der Schönberg-Schüler in The 400 Million oder in der alternativen Musik zu John Fords The Grapes of Wrath/Früchte des Zorns zwölftönig gefasste Passagen einbaute, bleibt er vor allem ein wirkungsstarker Pragmatiker, der sich an die Gepflogenheiten der typische Kinomusik hielt und diese durch dissonante Klänge nur sanft ankratzte, wie diese ausgesprochen informative Einspielung des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Johannes Kalitzke beweist, die darüber hinaus noch frühere Zwölftonwerke Eislers bereithält.   Rolf Fath