Heute passend wie nie

 

Bereits vor einigen Jahren hat der französische Countertenor Philippe Jaroussky barocke Sakralwerke eingespielt – 2005 Motetten für die Jungfrau zwischen Rom und Venedig unter dem Titel „Stabat mater“, 2014 Kompositionen von Vivaldi für Altus mit dem Motto „Pietà“. Jetzt erschien bei Erato sein neues, im Juni des Vorjahres in Frankreich aufgenommenes Album La vanità del Mondo, in welchem er sich Arien aus Oratorien widmet, die von Ende des 17. Jahrhunderts bis ca. 1750 entstanden (0190295179298). Eine Novität ist, dass er sich bei dieser CD auch als Dirigent betätigt und das junge Ensemble Artaserse inspirierend leitet.

Unter den 18 Titeln der Anthologie finden sich nicht weniger als sieben Weltersteinspielungen. Eine solche macht den Auftakt – die Arie des Isacco, „Perché più franco“, aus Pietro Torris Abramo, uraufgeführt 1731 in München. In ihrem lieblichen Melos ist sie für Jarousskys sanfte, keusche Stimme von weicher Textur ein ideales Stück. Vom selben Komponisten stammt auch das Oratorium, welches der CD den Namen gab: La vanità del Mondo. Daraus erklingt die heitere Arie des Piacere „Esiliatevi pene funeste“. Deren muntere Koloraturen absolviert der Sänger im Klang nicht immer ausgewogen. Ähnlich unbekannt wie dieser Tonsetzer, der von 1665 bis 1737 lebte, sind Fortunato Chelleri (1690 bis 1757) und Nicola Fago (1677 bis 1745). Aus dem Schaffen des Ersteren hat der Sänger die Arie des Dio, „Caderà, perirà“, aus Dio sul Sinai ausgewählt. Es ist eine aria di sdegno, also erfüllt von Zorn, wofür dem Interpreten zu wenig Ausdrucksmittel zu Gebote stehen. Aber immerhin bewältigt er die Koloraturläufe souverän. Von Fago ist das Lamento des Messo, „Forz’è pur nel proprio sangue“, aus Il faraone sommerso zu hören. Mit stockenden Akkorden eingeleitet, die bald an lastender Schwere zunehmen, kann der Sänger hier mit lang gehaltenen Noten aufwarten. Antonio Maria Bononcini steht hinsichtlich des Bekanntheitsgrades im Schatten seines Bruders Giovanni Battista, umso verdienstvoller, dass Jaroussky aus dessen La decollazione di San Giovanni Battista eine Arie des Titelhelden, „Bacio l’ombre e le catene“, vorstellt. In ihrem strengen, düsteren Charakter ist sie eine typische ombra-Arie, was sich bereits in der fahlen Einleitung andeutet. Dem Sänger aber fehlen geeignete Farben und die Tiefe klingt matt.

Die weiteren Komponisten sind ungleich populärer – allein voran George Frideric Handel, der mit seinem Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno von 1707 vertreten ist. Die Arie daraus, Piaceres „Lascia la spina“, ist vor allem durch Almirenas „Lascia ch’io pianga“, aus seiner Oper Rinaldo, welche auf dem selben musikalischen Motiv fußt und 1711 heraus kam, ein Schlager geworden. Hier hört man vom Counter schmeichelnde Töne und eine delikate Variation im Da capo.

Alessandro Scarlattis La Giuditta taucht gelegentlich in Konzertsälen und sogar Opernhäusern auf. Jaroussky schlüpft in die Rolle der Amme und gestaltet deren Arie „Dormi, o fulmine di guerra“. Für dieses Schlaflied findet er besonders zärtliche Töne. Auch Benedetto Marcello vertonte dieses Sujet in seinem Oratorium La Giuditta, aus dem der Sänger eine Arie des Achior, „Tuona il Ciel“, auswählte. Sie gehört zur Gattung der arie di furore. Schon in den wenigen Takten der Einleitung ist dieser Typus umrissen, und die Stimme ertönt in fast hysterischer Erregung Mit Johann Adolph Hasse findet sich auch ein deutscher Komponist in der Sammlung. Aus dessen La conversione di Sant’Agostino erklingt des Titelhelden „Il rimorso opprime il seno“. In ihrem aufgewühlten Duktus ist die Arie in glänzendes Beispiel für die Ausdruckskraft des Komponisten und auch ein Höhepunkt der Anthologie.

Nicht weniger als dreimal taucht der Name Antonio Caldara auf. Alle Werke sind Raritäten und dürften nur ausgewiesenen Kennern der Barockszene bekannt sein. Aus Assalonne ist Ioabbes ungestümes „Contro l’empio s’impugni la spada“ zu hören – wiederum eine aria di sdegno, was das Orchester in der Einleitung mit erregten Streicherfiguren hören lässt. Jaroussky greift hier im Ausdruck zu für ihn ungewöhnlich expressiven Mitteln. Aus Santa Ferma ertönt die Arie des Angelo „Amar senza penar“, welche dem Interpreten virtuose Läufe abverlangt. Mit der Arie der Maria di Giacobbe, „È morto il mio Gesù“, aus Morte e sepoltura di Christo beschließt Jaroussky das Programm mit einer ergreifenden Klage. Bernd Hoppe