Helden aus dem Schattenreich

Nach einem Ausflug zur DG ist Nathalie Stutzmann wieder zu ihrer angestammten Firma Erato/Warner Classics zurückgekehrt und hat dort ein Album mit Händel-Arien (08256 4623177 5) herausgebracht, das sie Heroes from the Shadows nennt und dabei erneut in Personalunion als Sängerin und Dirigentin wirkt. Mit den „Helden aus dem Schatten“ (eigentlich: im Schatten) meint sie die Figuren in den Opern des Komponisten, die in der zweiten Reihe stehen, im Schatten der Titelhelden, und dennoch wunderbare Stücke zu singen haben. Gleich der erste vokale Beitrag mit dem intriganten Polinesso aus Ariodante scheint ein treffliches Beispiel dafür zu sein. „Dover, giustizia“ ist für alle Altistinnen mit profunder, satter Tiefe und resoluter Attacke eine beliebte Nummer. Die französische Altistin nutzt sie, ihre maskulin-strenge Stimme von rauher Textur auszustellen. Deutlich bemüht klingt sie bei einigen ertrotzten Spitzennoten. Recht unterschiedlich ist das Klangbild mit sehr präsenten Passagen, aber auch dumpfen und verschwommenen.

In Amadigi di Gaula klagt Dardano in der Arie „Pena tiranna“ über die unglückliche Liebe zu Oriana, der Verlobten seines besten Freundes. In dieser melancholisch-schmerzlichen Sarabande hört man von der Solistin ernstes Pathos und einen sich expressiv steigernden Klagegesang. Ein starker Kontrast dazu ist Cleones furioses „Sarò qual vento“ aus Alessandro, das mit den Metaphern von Sturm und Feuersbrunst enorme Wirkung erzeugt. Von aufgewühlten Orchesterwogen eingeleitet und durchgängig von Affekten gleich Peitschenhieben begleitet, zeigt das Stück mit seinen Koloraturläufen die Kompetenz der Sängerin hinsichtlich der virtuosen Anforderungen. Nur der heulende Klang der Stimme in der Höhe stört. In der komischen Oper Serse sorgt Arsamene für ernste Momente, wenn er seine geliebte Romilda dem tyrannischen Bruder Serse überlassen soll. „Non so se sia la speme“ ist eine sehr innige Arie von introvertiertem Duktus, man hört sie in schöner Schlichtheit.

Eine würdevolle, tragische Figur ist Zenobia, Gattin des Titelhelden Radamisto, die sich im dramatisch eingeleiteten „Son contenta di morire“ zu sterben bereit erklärt, um den von König Tiridate erklärten Krieg zu verhindern. Die Arie zeigt sie in einer existentiellen Situation, und die Sängerin formt das auf packende, spannende Weise. Insgesamt gehört dieser Titel zu den gelungensten der Auswahl. Ähnlich erfleht auch Irene (Tamerlano) in „Par che mi nasca in seno“ Hoffnung und Liebe. Die Arie in ihrem wiegenden Melos und sanftem Charakter zeigt Stutzmanns Alt von seiner besten Seite mit schmeichelnden Momenten. Ein getragenes Lamento ist Ottones „Voi che udite“ aus Agrippina, in dem Stutzmann zu berührenden Tönen findet, gelegentlich aber auch solche von bohrender Intensität hören lässt. Aus Giulio Cesare wurden zwei Szenen ausgewählt – Cornelias vom Willen nach Rache erfülltes „L’aure che spira“ in geradezu wilder Energie und ihr wunderbares Duett mit Sesto, als der Philippe Jaroussky mitwirkt und mit seinem zärtlich-keuschen Ton für einen besonders berührenden Moment sorgt. Erstaunlich, wie die Altistin hier ihre Stimme verschlankt, sie zurückzunehmen und mit der des Countertenors zu einem homogenen Klang zu verbinden weiß. Der Athener Jüngling Alceste schildert in „Son qual stanco pellegrino“ aus Arianna in Creta seine Situation einer unerwiderten Liebe – ein sehr intimes, vom Cello piccolo begleitetes Stück, das in der Stimmung dem vorangegangenen Duett ähnelt.

Der Bertarido in Rodelinda wurde für Senesino geschrieben; seine Arie „Se fiera belva“ ist erfüllt von der Zuversicht, bald wieder mit seiner geliebten Frau vereint zu sein. Von straffem Rhythmus und männlicher Energie widerspiegelt sie die gespannte Erwartungshaltung des jungen Helden. Eine selten aufgeführte Oper ist Silla (von 1713), aus der die Arie des Claudio, „Senti, bell’idol mio“, erklingt – ein von der Solotheorbe begleitetes, introvertiertes Stück, in welchem Stutzmann ihren Alt sanft und delikat einsetzt. Ganz das Gegenteil mit opulenter Orchesterbegleitung ist Rosmiras „Io seguo sol fiero“ aus Partenope, die ihren treulosen Geliebten bestrafen will. Hier hat die Solistin Gelegenheit für bravourös verzierten Gesang und witzige Horn-Imitationen.

Mit ihrem Kammerorchester Orfeo 55, das sie 2009 gründete, begleitet sich Nathalie Stutzmann bei ihren Gesangsnummern und bringt darüber hinaus einige Ouvertüren aus Händel-Opern sowie den Ballo di pastori e pastorelle aus dem Amadigi di Gaula zu Gehör. Die Sinfonia aus Poro eröffnet das Programm mit gewichtigen, ernsten Akkorden, die zu Orlando ist von ähnlicher Struktur. Sehr kurze, muntere Einleitungen haben Partenope und Scipione; Serse ist ausgedehnter und von delikatem, tänzerischem Charakter. In allen Stücken zeigt sich Stutzmann als Dirigentin mit starkem Gefühl für Rhythmus und Affekte; im Ballo aus Amadigi  erfreut sie mit solch tänzerischer Verve und musikantischem Schwung, dass man sie sich auch am Pult einer französischen Barock-Oper vorstellen könnte.

Bernd Hoppe