Und noch einer …

 

Es muss schon treffliche Gründe geben, wenn man der Fülle an Aufnahmen, auch auf DVD, einen neuen Barbiere di Siviglia hinzufügt  Naxos schien entweder von Jérémie Rhorer überzeugt oder von Laurent Pelly (Naxos DVD 2.1105992). Oder von beiden. Wie dem auch sei, das Ergebnis kann sich sehen und hören lassen. Rhorer kennt das Théatre du Champs-Elysées, wo dieser Barbiere im Dezember 2017 aufgenommen wurde, schließlich startete der Christie- und Minkowski–Assistent mit einem 2011 begonnenen, bislang fünfteiligen und u.a. von Stéphane Braunschweig und James Gray inszenierten Mozart-Zyklus von hier aus seine Opernkarriere. Es ist also ein Heimspiel. Mit seinem 2005 gegründeten Orchester Le Cercle de l’Harmonie widmet er sich der Musik ab dem späten 18. Jahrhundert. Gemeinsam spielten sie J.C. Bach, Grétry und Spontini, darunter die. 2016 von Palazzetto Bru Zane veröffentlichte Olimpie. Außerdem gingt Rhorer mit Dialogues des Carmélites, La traviata oder Ariadne auf Naxos auch eigene Wege. Der von Rhorer quick, präzise und mit Sinn für Details dirigierte Barbiere ist quasi der erste Belcanto-Ausflug. Die Inszenierung von Laurent Pelly leisten sich Bordeaux, Marseille, Luxembourg und Klagenfurt. Sie ist wunderhübsch, und so ganz anders als die Commedia dell’arte-Verschnitte, ob alt oder modern, die um Klamauk oder Komik bemühten Aktualisierungen.

Es ist bei Pelly vielmehr, als beginne die Musik auf der Bühne zu tanzen, als entwickelten die Figuren aus der Musik heraus Eigenleben. Fiorello und die Herren, die Graf Almaviva für sein Ständchen engagiert hat, erscheinen allesamt im Frack, um die hoch in einem Ausschnitt des bühnenfüllenden Notenblatts kokettierende Rosina zu bezirzen – alles stammt aus einer Hand: Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme. Almaviva ist etwas legerer gekleidet, trägt statt Fliege, Hemd und Frackweste ein schlichtes T-Shirt zum schwarzen Anzug, der auf einem Stuhl über dem Notenblatt heruntergelassene Figaro ist mit schwarzem Achselshirt und Tattoo dezent prollig, Rosina trägt schwarze Hosen und schwarz-weiß quergestreiftes Oberteil, später ein schwarzes Prinzessinnenkleid, doch alle scheinen sie selbständig gewordene schwarze Notenköpfe. Das ist kein Konzept, doch Pelly hantiert virtuos, entwickelt sein Spiel aus der Musik und lässt auf der wandelbaren Notenblatt-Bühne, bei der während der Sturmszene beispielsweise alle Notenköpfe auf den Boden regnen, kaum Langeweile aufkommen.

Die Sänger waren mir nicht bekannt. Was nicht für mich spricht. Sie allein würden den Abend wohl kaum tragen, doch Rhorer lässt sie verzieren und malen, als haben sie die Musik in der Hand. Das ergibt eine durch Tanzschritte unterlegte wippende Leichtigkeit und hüpfende Lebendigkeit, ist immer spielerisch und oftmals  neu: Der Amerikaner Michele Angelini singt den Almaviva mit gelegentlich kehlig belegter Sinnlichkeit und in der Höhe mit dem Ton des Belcanto-Draufgängers, nur dem Schlussrondo „Cessa di più resistere“ fehlt es an auftrumpfender Bravour, der Franzose Florian Sempey (kürzlich Hamlet in Berlin/ G. H.) ist als Figaro auf nicht unangenehme Weise etwas allgemein, die Italienerin Catherine Trottmann probiert als Rosina, zu deren Auftritt sich das Notenblatt rund aufgerollt hat, allerhand aus, der Ungar Peter Kálmán ist ein bollerig konventioneller Bartolo, der outriert gesungen und gespielte Basilio des in anderen Partien vermutlich vorteilhafteren kanadischen Bassbaritons Robert Gleadow ist gewöhnungsbedürftig; mir gefiel der nette, kleine Spielbariton von Guillaume Andrieux als Fiorillo. Annuniata Vestri ist eine trockene Berta. Die Chorherren von Unikant sind ausgesprochen komisch, wenn sie im ersten Finale mit erhobenen Notenständern als Soldaten einmarschieren. Alles in allem: netter als erwartet. Rolf Fath