Orientalisches aus Toronto

 

Die Anzahl der Einspielungen von Jules Massenets Comédie lyrique Thaïs ist überschaubar – jüngstes Dokument war die Aufnahme mit Renée Fleming und Thomas Hampson bei Decca 2005. Frankophile Opernfreunde favorisieren als Referenzaufnahmen noch immer jene mit Renée Doria von 1961 (ebenfalls Decca) und Andrée Esposito (1959/live). Nun bringt das Label CHANDOS auf 2 CDs (CHSA  5258) eine Produktion vom November 2019 mit dem Toronto Symphony Orchestra heraus, mit der auch eine Konzertaufführung in der Roy Thomson Hall in Toronto einherging. Spiritus Rector des Unternehmens ist Andrew Davis, der dem Orchester von 1975 – 88 als Principal Conductor vorstand und in diesem Jahr als Interim Artistic Director fungiert. Ihm ist eine atmosphärische Aufnahme zu danken, die Massenets schillernder Musik in jedem Takt gerecht wird. Der Dirigent entschied sich für eine Mischfassung aus der Pariser Uraufführung 1894 und Massenets späterer Überarbeitung von 1898, in der er dem 3. Akt eine Eröffnungsszene hinzufügte, welche die entbehrungsreiche Reise von Thais und Athanaël durch die Wüste schildert. Der Komponist integrierte auch mehrere Ballettmusiken in die spätere Fassung, die – bis auf eine Ausnahme – in dieser Einspielung allerdings fehlen. Neben der inspirierenden Begleitung der Sänger sorgt Davis auch für effektvolle Instrumentalnummern – die Vision mit ihrem orientalischen Kolorit, das Prélude zum Second Tableau mit seinem sinnlichen Rausch, die Méditation in ihrer betörenden Süße, der dramatisch aufgepeitschte Course de la nuit.

In der Titelrolle ist Erin Wall mit reizvoll timbriertem Sopran zu hören. Mit dem schwelgerischen Ausdruck, der blühenden Höhe und dem sinnlichen Klang besitzt sie alle Voraussetzungen für eine ideale Interpretin der Partie. Ihren großen Auftritt hat die Kurtisane zu Beginn des 2. Aktes mit der Spiegelarie, in der sich Wall von melancholischer Tongebung zu trancehafter Erregung steigert. Im nachfolgenden Duett mit dem Mönch Athanaël erweist sich der kanadische Bariton Joshua Hopkins als ebenbürtiger Partner. Die Stimme ist von resoluter Strenge, verfügt aber auch über virile Sinnlichkeit. In seinem großen Solo zu Beginn des Second Tableau („Voilà donc la terrible cité!“) breitet sich sein Organ strömend und in reicher Fülle aus. Beide Sänger tragen auch den 3. Akt mit Thais’ Tod und Apotheose. Im Duett „Baigne d’eau“ mischen sich ihre Stimmen perfekt und bringen auch die geboten entrückte Stimmung ein. Überwältigend im sinnlichen Rausch ist beider Zwiegesang zum Thema der Méditation, bei dem die Sopranistin zweimal bis zum hohen D hinaufsteigen muss. Massenet hatte damit der Interpretin der Uraufführung, Sybil Sanderson, seinen Tribut gezollt. Bei Erin Wall sind diese Extremtöne nicht ideal in die Linie eingebunden, aber das ist ein marginaler Einwand angesichts ihrer insgesamt großartigen Leistung.

Der britische Tenor Andrew Staples als junger Alexandriner Nicias bleibt in Timbre und Gestaltung etwas allgemein, absolviert seine Auftritte jedoch in professioneller Manier. Die Besetzung wird komplettiert von Nathan Berg mit reifem Bassbariton als alter Zenobit Palémon, Emilia Boteva als Äbtissin Albine mit delikatem Mezzo sowie Liv Redpath und Andrea Ludwig als die Sklavinnen Crobyle und Myrtale, die nicht nur ihre staccato-Lachsalven präzise und mit kokettem Ausdruck absolvieren, sondern im 2. Akt auch Gesänge von betörend flirrender Wirkung beisteuern. Der Mendelssohn Choir (Jonathan Crow) setzt im Second Tableau des 2. Aktes gewaltige Akzente, wenn die aufgebrachte Menge gegen Athanaël, der Nicias’ Palast angezündet hat, rebelliert. Großen Kontrast dazu haben die verklärten Gesänge der Nonnen im Kloster. Bernd Hoppe

 

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