OPÉRA POUR LA PAIX

 

Der Frieden von Aachen beendete 1748 den achtjährigen österreichischen Erbfolgekrieg, der von verschiedenen europäischen Mächten an Schauplätzen weltweit ausgefochten wurde. Der französische König Ludwig XV. ließ diesen Frieden ab Februar 1749 mit viel Aufwand feiern. In England entstand aus diesem Anlaß Händels Feuerwerksmusik. Der damalige Direktor der Académie Royale de musique Joseph Guénot de Tréfonatine gab zur Feier eine Oper, die die aktuelle politische Situation aufgreifen sollte, bei den führenden Künstlern in Auftrag. Jean-Philippe Rameau und seinem langjährigen Librettisten Louis de Cahusac war bereits im Jahr zuvor mit Zaïs ein großer Erfolg gelungen. Innerhalb von ca. fünf Wochen beendeten sie ihre neue Oper: Naïs bekam den Untertitel Oper für den Frieden. Tréfonatine scheute keine Kosten und produzierte eine aufwändige Operninszenierung mit den Stars ihrer Zeit, aufwändigen Kostümen und Bühnenbildnern sowie Verwandlungen und pyrotechnischen Effekten. Im April 1749 war Premiere im Palais Royal, es folgten 48 Aufführungen in Folge. Naïs wurde ein eindeutiger Erfolg. Doch Tréfonatine hatte die Akademie schon zuvor so hoch verschuldet, dass der König seine Amtsführung als unzufriedenstellend betrachtete, ihm das Opernprivileg entzog und es der Stadt Paris übertrug. Naïs erzählt eine mythologische Geschichte. Im Prolog revoltieren Giganten und Titanen gegen die Olympier. Jupiter (also Ludwig XV) verbündet sich mit anderen Göttern, um die Welt zu befrieden und teilt seine Macht auf: er beherrscht Himmel und Erde, Neptun das Meer und Pluto die Unterwelt. Die dreiaktige Haupthandlung beginnt bei den in Korinth abgehaltenen Istmischen Spielen, bei der der anonym auftretende, verkleidete Neptun hofft, auf die Nymphe Naïs zu treffen, in die er verliebt ist und die seine Liebe erwidern wird. Doch es gibt Konkurrenten, die eifersüchtigen Astérion und Télénus begehren ebenfalls Naïs und interpretieren einen Orakelspruch von Naïs‘ Vater Teiresias über den drohenden Zorn Neptuns als Aufforderungen, den Rivalen (also Neptun) zu töten, um den Meeresgott zu besänftigen. Naïs warnt den immer noch unbekannten Verehrer vor den Attentätern, deren angreifendes Schiff wird vom Meer verschlungen, die Prophezeiung an Astérion und Télénus erfüllt. Neptun offenbart sich als Gott und macht Naïs zu seiner Frau. Verwendet wird als Partitur eine neue kritische Ausgabe der Sammlung Opera omnia de Rameau.

Das Orfeo Orchestra unter György Vasheghi setzt auf Opulenz, Effekte und Kontraste, die 36 Musiker des Orfeo Orchestras spielen abwechslungsreich und farbig bei oft hohem Tempo, es gibt eine historische Sackpfeife, Flöten und Piccolo-Flöten, Oboen, Fagotte, Trommel, Pauke und Trompeten – Rameaus Musik will klangmalerisch, fesselnd und entfesselt sein und so wird es auch von Orchester und Dirigent umgesetzt. Die Ouvertüre ist in kriegerischer Aufruhr, der folgende Prolog ist spannend und von herrschaftlichem Selbstverständnis. Immer wieder gibt es Divertissements, eine lange Chaconne mit Balletteinlage repräsentiert die Sportler, man hört im Verlauf der Oper Menuette, Sarabande, Gavotte und eine Pastorale. Es gibt Vogelgezwitscher und eine Orakelszene im pastoral wirkenden 2. Akt, der dramatischere 3. Akt mit Seeschlacht endet mit einem Ballett. Naïs ist ein originelles Werk Rameaus, das vom Dirigenten expressiv aufgeladen wird und oft aufregend klingt. Die Sänger haben virtuose Airs mit viel duftender französischer Lyrik, die überwiegend von renommierten Muttersprachlern und Barockexperten über ein große Bandbreite an Stimmungen authentisch dargeboten wird. Chantal Santon-Jeffery singt Naïs mit flexibler Stimme und starkem Ausdruck zwischen Hoffen und Bangen, Reinoud van Mechelen ist mit seiner geschmeidigen Stimme ein charmanter Neptun, sein kultivierter Tenor überzeugt vom Auftakt des 1. Akts mit „Je ne suis plus ce Dieu volage“ ebenso wie bei seinem großen Monolog „La jeune nymphe que j’adore“ zu Beginn des dritten Akts. Der argentinische Tenor Manuel Nuñez-Camelino hat als Astérion mit „Les ennuis de l’incertitude“ eine der schönsten Arien, die er hingebungsvoll interpretiert. Beide Baritone sind eine tadellose Wahl, Thomas Dolié hat mit Pluton und Télénius die dunklen Rollen, Florian Sempey ist in der Doppelrolle als Jupiter und Tirésie zu hören. Der ungarische Purcell Choir ist schwungvoll engagiert und stets präsent. Der englische Musikwissenschaftler Cuthbert Girdlestone hat in seiner 1957 erschienenen maßgeblichen Werkbiographie Rameaus nur wenig über Naïs geschrieben und es quasi als weniger interessantes Nebenwerk abgetan. Wenn man sich diese Neuaufnahme anhört, will man widersprechen: ein Klangerlebnis mit beredter Musik und zupackend dargeboten! (2 CDs, Glossa, GCD 924003). Marcus Budwitius