Die „Unvollendete“ als Entdeckung

 

Der Dirigent Sergiu Celibidache (1912–1996) war eine streitbare Persönlichkeit. Seine Selbstinszenierung als „Musik-Guru“ in späten Jahren traf nicht auf ungeteiltes Echo. Offizielle Einspielungen im Tonstudio lehnte er aus verschiedenen Gründen ab. Gemessen daran ist sein diskographischer Nachlass erstaunlich groß. Chronologisch reichte sein Repertoire von Bach bis Hindemith, auch wenn die Spätromantik mit Bruckner und Brahms selbstredend das Gros ausmachte. Besonders EMI hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten um die Verbreitung seiner überlieferten Tonaufnahmen gekümmert. Trotzdem gibt es auch heute noch Entdeckungen in Sachen „Celi“ zu machen. Die Münchner Philharmoniker, denen der gebürtige Rumäne in den siebzehn letzten Jahren seines Lebens als Chefdirigent vorstand, bereichern nun auf ihrem Eigenlabel (MPHIL0004) die Diskographie um zwei weitere Facetten: Franz Schuberts „Unvollendete“ und Antonin Dvoráks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“.

Die nur zweisätzige sogenannte „Unvollendete“, die mit ihren etwa gleich langen Sätzen tatsächlich eine in sich abgeschlossene Einheit darstellt, ist seit ihrer späten Uraufführung 1865, Jahrzehnte nach Schuberts Tod, ein Dauerbrenner. Beinahe kurios, dass erst jetzt eine Münchner Aufnahme unter Celibidaches Stabführung auftaucht. Das Werk fehlte in der ansonsten umfangreichen EMI-Edition. Dies vorweg: Es lag nicht an einer unzureichenden Tonqualität. Der Live-Mitschnitt datiert auf den 30. September 1988 und fand in der akustisch problematischen Philharmonie im Gasteig statt. Von etwaigen Problemen ist zumindest in der Tonaufnahme nichts zu merken. Das Klangbild präsentiert sich voll und detailreich. Entgegen dem Klischee wählt Celibidache auch keine extrem langsamen Tempi: Das Allegro moderato kommt auf 12:14, das Andante con moto auf nur minimal längere 12:22 (Karl Böhm braucht in seiner letzten Aufnahme, die für mich Referenzstatus besitzt, 12:59 und 12:17). Freilich handelt es sich (man möchte sagen: zum Glück) gleichwohl um eine insgesamt getragene Interpretation. Im geheimnisvollen Kopfsatz entsteht hier zuweilen eine gar beängstigende Stimmung. Obschon alle lyrischen Momente voll auskostend, versteht es Celibidache, die dramatischen Ausbrüche in ihrer ganzen Unerbittlichkeit ausspielen zu lassen (und das zuweilen vorwärtsdrängender, als man glauben möchte). Der zweite Satz profitiert vom unnachahmlichen Innehalten und Zurücknehmen des Dirigenten. Bei diesem spätromantisch angehauchten Schubert hat man im Hinterkopf bereits die Klangwelten Anton Bruckners und versteht die nicht abzustreitende Vorbildfunktion Schuberts für denselben.

Das andere auf der CD enthaltene Werk, Dvoráks letzte Sinfonie, war bis dato unter Celibidache zumindest durch einen 1991 entstandenen Video-Mitschnitt bekannt (DVD bei EuroArts). Die vorliegende Aufnahme stammt vom 16. Juni 1985 und kommt aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz. Das Klangerlebnis ist ähnlich überzeugend wie bereits beim Schubert. Großartiger und prächtiger hat man das einleitende Adagio des Kopfsatzes (10:48; 1991 übrigens 11:16) selten gehört. Das stellenweise sehr zelebrierte Tempo überhöht diesen ohnehin schon majestätischen Satz noch in besonderer Weise. Bei den forte-Stellen wird es, der brachialen orchestralen Eruption angemessen, dann auch stellenweise flotter. Bei der Feierlichkeit des berühmten Largo übertreibt es der Dirigent für den gewöhnlichen Dvorák-Hörer vermutlich doch: Mit 16:43 übertrifft er hier sogar die sechs Jahre später entstandene Aufnahme um einige Sekunden (und George Szell um beinahe fünf Minuten). Auch hier wird man wieder an Bruckner gemahnt, derjenige Komponist, dem Celibidache vermutlich am nächsten stand, da er seine temporalen Vorstellungen dort am besten umsetzen konnte. Der langsame Satz hat in „Celis“ Deutung etwas Transzendentales an sich. Bewundernswert, wie scheinbar mühelos das Orchester imstande ist, der zuweilen exzentrischen Agogik des Dirigenten zu folgen. Und doch kommt keine Langeweile auf, da die Innenspannung erhalten bleibt.

Sowohl das Scherzo (8:35) als auch das Finale (12:12) fallen rein tempomäßig nicht so stark von anderen Aufnahmen ab (in Ferenc Fricsays berühmter Einspielung mit den Berliner Philharmonikern etwa 8:18 und 11:56). Im explosiven dritten Satz geht es auch bei Celibidache richtig zur Sache, die Münchner Philharmoniker können einmal mehr ihre Qualitäten unter Beweis stellen. Wunderbar hier besonders die zuweilen pastoral angehauchten Holzbläser. Erwartungsgemäß feurig der Finalsatz, ohne vor Pathos zurückzuschrecken. Wie Celibidache die Höhepunkte herausarbeitet und wie für die Ewigkeit in Stein meißelt, dürfte jedem seiner Kritiker Respekt abnötigen. Schlichtweg überwältigend der Durchbruch zur Coda mit genialem Ritardando. Gänsehaut inklusive. Ein ganz exzeptionelles Tondokument. Diese Neuveröffentlichung präsentiert sich in optisch ansprechender aufklappbarer Pappkartonage. Ein knappes Booklet mit Werkerläuterungen in englischer und deutscher Sprache liegt bei. Man darf auf weitere Publikationen aus dem Archiv der Münchner Philharmoniker auf deren Eigenlabel hoffen. Daniel Hauser