Auf die Neunte folgt die Fünfte

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Gerd Schallers bei Profil/Hänssler erscheinende Reihe „Bruckner für Orgel“ geht weiter. Diesmal steht die fünfte Sinfonie im Mittelpunkt (PH23014). Im Gespräch mit Rainer Aschemeier, das im Beiheft abgedruckt ist, gibt Schaller Auskunft darüber, weshalb nach der bereits vorgelegten Neunten seine Wahl diesmal auf die Fünfte fiel. Keine der Bruckner-Sinfonien sei derart kontrapunktisch gearbeitet, so Schaller, besonders die monumentale Fuge im Schlusssatz. Nach Ansicht des Dirigenten (und Organisten) eigneten sich keineswegs alle Sinfonien Bruckners für eine Orgelbearbeitung; er führt als dritte noch die Achte an. Der Schwierigkeiten, die mit einer Transkription einhergehen, ist sich Schaller durchaus bewusst, selbst wenn gerade Bruckners Fünfte in ihrer Klanglichkeit der Orgel mitunter sehr nahe komme. Die der Sinfonie Nr. 5 teils verliehenen Beinamen wie „Katholische“ oder „Glaubenssymphonie“ sieht Schaller jedenfalls kritisch. Wiederum entschied man sich, wie bereits beim Sinfonien-Zyklus, für die Ebracher Abteikirche mit ihrer sehr eigenen Akustik und ihrer adäquaten Orgel von Wolfgang Eisenbarth (eingespielt im November 2022, wiederum in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk).

Tatsächlich lässt sich Schallers Argumentation nachvollziehen, da die Fünfte eine genuine Eignung für eine Orgelbearbeitung aufweist. Das Klangbild ist stellenweise erstaunlich nahe an der gewohnten Orchestrierung. Freilich gilt es gleichwohl auch hier, da und dort Kompromisse einzugehen, lassen sich doch bestimmte Orchestereffekte auf einer Orgel nicht oder allenfalls annäherungsweise darstellen, denkt man an das Streichertremolo oder den Paukendonner. Der Überwältigungseffekt stellt sich in der finalen Apotheose der Schlusscoda, worauf von Anfang an alles hinzielt, in der Tat auch hier ein. Die angeschlagenen Tempi (18:34 – 16:17 – 14:36 – 23:05) unterscheiden sich nicht grundsätzlich von der gewöhnlichen Orchesterfassung; die Gesamtspielzeit ist mit gut 72 Minuten sogar nahezu identisch mit Schallers vorliegender Einspielung. Das zweisprachige Booklet (Deutsch, Englisch) ist gewohnt aufschlussreich und bietet unter anderem die Orgeldisposition in allen Details. Daniel Hauser

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Die Orgel sei „das Instrument Bruckners“, so verkündet Gerd Schaller, ohne Frage einer der großen Bruckner-Exegeten unserer Zeit, im kundigen Gespräch mit Andrea Braun, welches im Booklet der nun bei Profil/Hänssler aufgelegten Einspielung der von Schaller selbst arrangierten Orgelbearbeitung der neunten Sinfonie von Anton Bruckner abgedruckt ist (PH21010). Diese Aussage Schallers ist durchaus nachvollziehbar, spielte die Orgel im Leben Bruckners doch eine eminent wichtige Rolle – und, wenn man so will, sogar über seinen Tod hinaus, liegt er doch bekanntlich unter der Orgel von St. Florian begraben. Im Zuge des Projektes BRUCKNER2024 hat es sich der Dirigent zum Ziel gesetzt, sämtliche Bruckner-Sinfonien in teils sehr wenig gespielten Fassungen aufzunehmen. Dieses ambitionierte Vorhaben ist bereits weit gediehen und hat so manche wirklich ausgezeichnete Interpretation hervorgebracht.

Die Idee, Bruckner mittels einer Orgeltranskription näherzukommen, gleichsam zur Essenz vorzudringen, ist so neu nicht. Tatsächlich beabsichtigt auch der Organist Hansjörg Albrecht beim Label Oehms eine Gesamteinspielung der Sinfonien in Orgelbearbeitungen (die „Nullte“ ist 2020 bereits erschienen). Schaller geht es, wie er ausdrücklich betont, keineswegs um eine 1:1-Übertragung der Orchesterfassung auf die Orgel. Die Konzentration auf das Wesentliche unter Weglassung letztlich nicht übertragbarer Details der Orchestrierung sei essentiell. Dabei räumt er durchaus ein, „[i]n einem gewissen Sinne“ eine Bearbeitung geschaffen zu haben. Für Schaller (und auch für die seriöse moderne Bruckner-Forschung) steht es außer Frage, dass der Komponist seine letzte Sinfonie viersätzig konzipierte. Hinsichtlich des Finalsatzes bediente sich Schaller seiner eigenen Komplettierung, die bei Profil/Hänssler bereits zweifach und, dies darf hinzugefügt werden, überaus überzeugend vorgelegt wurde (Fassung 2015 auf PH16089, Revision 2018 auf PH18030). Eine gewisse Orientierung an den großen französischen Orgelkomponisten des 19. Jahrhunderts Guilmant, Widor und Vierne habe durchaus Pate gestanden, so Schaller, wenngleich er einräumt, dass der Vergleich auch hinke, da die genannten Komponisten ja primär schon für die Orgel komponierten und nicht erst später transkribierten.

Beim in dieser Neuaufnahme verwendeten Instrument handelt es sich um die Orgel der ehemaligen Zisterzienserabteikirche Ebrach in Franken, zwischen Bamberg und Würzburg gelegen. Bei dieser handelt es sich um die Rekonstruktion einer Barockorgel durch den Passauer Orgelbaumeister Wolfgang Eisenbarth (1984). Die Ebracher Hauptorgel eigne sich aufgrund ihres sowohl barocken als auch romantischen Charakters besondere für Bruckner, der in St. Florian selbst auf der spätbarocken Orgel von Franz Xaver Krismann gespielt hat. Wie nun klingt dieses gewagte Experiment? Um es mit Gerd Schallers eigenen Worten zu sagen: „ganz anders“ als die altbekannte Orchesterfassung der Neunten. Der ganz eigene, intime Charakter einer Orgelsinfonie kommt zweifelsohne ausgezeichnet herüber. Die in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk – Studio Franken zwischen 2. und 5. November 2020 entstandene, also praktisch taufrische Einspielung weiß auch klanglich zu überzeugen und ist ein wenig Ausdruck der derzeitigen Pandemie, die zur Rückbesinnung auf den Einzelnen, in diesem Falle eben den Organisten, animiert. Dies muss nicht nur ein Verzicht, sondern kann eben durchaus auch ein Gewinn sein.

Meine grundsätzliche Skepsis gegenüber Orgeltranskriptionen großer spätromantischer Orchesterwerke will ich nicht verleugnen. Nicht alle derartige Versuche wussten zu überzeugen (denkt man etwa an Wagner). Indes, im Falle Bruckners scheint es zu klappen. Die von Schaller angeschlagenen Tempi (26:01 – 11:06 – 24:53 – 25:17) unterscheiden sich keinesfalls von seinen beiden Einspielungen der Orchesterfassung, ganz im Gegenteil, sie sind beinahe auf die Sekunde identisch. Nun sollte man freilich hinzufügen, dass auch die Orchesterversionen am selben Ort, im Kloster Ebrach, eingespielt wurden. Es klingt jederzeit nach Bruckner. Verheißungsvoll der Auftakt im langgestreckten Kopfsatz. Das oft angriffslustig dargebotene Scherzo erhält mittels der Orgel einen mehr kontemplativen Charakter. Ihre große Stärke kann die sehr voll tönende Orgel naturgemäß im himmlischen Adagio ausspielen, das auch zum Höhepunkt der Darbietung gerät. Ein Bruch zwischen dem Finale und den drei vorangegangenen Sätzen ist in dieser Orgelfassung tatsächlich nicht feststellbar. Der Schlusssatz wird nicht zuletzt zu einem neuerlichen Plädoyer für Schallers eigene Fassung. Das Booklet ist zweisprachig gehalten (Deutsch und Englisch), überzeugt durch ansprechende Photographien und listet auch die Disposition der Eisenbarth-Orgel minutiös auf, was besonders für Orgelbegeisterte von Wichtigkeit sein dürfte. Eine rundum gelungene Produktion, die auch dem fortgeschrittenen Brucknerianer neue Einsichten in vermeintlich Altbekanntes zu gewähren im Stande ist. Daniel Hauser