Karajan und kein Ende

 

Ob Schallplatte, CD, DVD, ob Opernregie, Opernfilm, Opernhaus, Konzertpodium oder Festival: Herbert von Karajan scheint auf allen Hochzeiten zu tanzen. Zurecht spricht Florian Kraemer im jetzt erschienenen Buch „Der Karajan-Diskurs“ vom „Coca-Cola-Faktor“ Karajans. Herbert Danuser macht deutlich, was keinem anderen Dirigenten so gelang wie Herbert von Karajan: „Klang-Bilder des Schönen“ optisch wie musikalisch (in einem romantischen Sinne) zu inszenieren. Es ging ihm, darum, das „Sichtbar Schöne“ (zu dem er sich selbst und seine Körpersprache raffiniert und unter Einsatz aller technischen Möglichkeiten in Szene setzte, mit dem „Hörbar-Schönen“ zu vereinen. Zurecht weist Herbert Danuser in dem von Julian Caskel herausgegebenen Band, der die Vort­­räge eines gleichnamigen Fachkongresses am Musikwissenschaftlichen Institut der Uni­versität Köln zu Beginn des 2010 bündelte, darauf hin: „Karajans optische Ideale waren von jener Moderne beeinflusst, die ihm Riefenstahl-Filme in der NS-Zeit vor Augen geführt hatten, indem sie die Macht der Masse im Kontrast zu heroischer Individualität inszenierten. Auch nach Kriegs­ende liebte er den Vergleich des Orchesters mit einem Vogelzug, wo Hunderte von Tieren in bester Ordnung scheinbar anstrengungslos fliegen“. Er selbst begriff sich freilich als Kompassnadel und Antriebskraft des Vogelflugs.

Die Karriere Karajans begann nicht erst 1954, als der Dirigent Wilhelm Furtwängler starb. Herbert von Karajan wurde damals auf Lebenszeit zu seinem Nachfolger als Chefdirigenten und künstlerischen Leiter der Berli­ner Philhar­moniker gewählt. Schon die Nationalsozialisten hatten Karajan zum Antipoden Wilhelm Furtwänglers aufgebaut, der als unzuverlässig galt. Im Jahre des Beginns des Zweiten Weltkriegs, 1939, wurde Karajan Staatskapellmeister der Berliner Staatsoper und übernahm die Leitung der Sinfoniekonzerte der Preußischen Staatskapelle. Das „Wunder Karajan“ (das die NSDAP-treue Presse ausposaunte) nahm seinen Lauf und setzte sich als beispiellose Karriere auch nach 1945 fort. Karajan wurde zu einem der künstlerisch herausra­gen­den, mit mehr als 300 Millionen zu Lebzeiten verkauften Ton­trägern kommerziell der erfolg­reich­ste Dirigent aller Zeiten, eine Ikone der Klassischen Mu­sik und Legende multimedial ver­mark­teter, globa­lisierter Musik. Nach dem Krieg und kurzem Dirigierverbot, startete Karajan, nicht zuletzt dank des englischen EMI-Platten­Produzenten und Gründers des Philharmonia Orchestra, Walter Legge eine zweite Karriere: Teil zwei des „Wunders Karajan“. Was folgte, war ein unaufhaltsamer Aufstieg in die musi­kalische Schaltstellen Europas. Karajan wurde Künstlerischer Direktor der Wiener Gesell­schaft der Musikfreunde, Chef der Wiener Staatsoper und Künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele, aber auch der Mailänder Scala, um nur die wichtigsten Stationen seines enormen Aktionsradius zu nennen. Er galt als „Generalmusikdirektor Europas“.

Klaus Prieberg hat in seinem 1982 erschienenen Buch „Musik im NS-Staat“ erstmals die Frage aufgeworfen, die bis heute im Raum steht: Hat sich Herbert von Karajan mit den Nazis nur arrangiert oder spielte er eine aktive Rolle im Nazisystem? Zuvor blieb nämlich seine tatsächliche politische Rolle bisher immer noch weitgehend undurchsichtig, da er nach dem Zweiten Weltkrieg alles tat, um Spuren zu verwischen und Erinnerungen ver­gessen zu machen. Der kritische Karajan-Biograph Oliver Rathkolb widersprach schon 2010 einem Inter­view Karajans, der angeblich gestand: „Die NSDAP-Mitgliedschaft sei für ihn wie die Mitgliedschaft beim Alpenverein gewesen, damit man billig in einer Hütte übernachten kann. Karajan-Biograph Klaus Riehle hat neuerdings Dokumente zutage gefördert, die zweifelsfrei enthüllten, dass Karajan ein aktiver und opportunistischer Mitläufer gewesen sei und jeden hochkarätigen Nazikontakt genutzt habe, der ihm in seinem Karriere- und Machtstreben dien­lich war. Seine Karriere verdankte Karajan unzweifelhaft dem „tausendjährigen Reich“. Die Angst vor der Aufdeckung dieser seiner Vergangenheit beherrschte Karajan denn auch bis zu seinem Tod. Daher steuerte und kontrollierte er nach 1945 alle Informationen über sich und seine Vergangenheit. Bezeichnenderweise hat er in einem späten Interview einmal bekannt: „Ich möchte omnipräsent sein, ohne dass man mich eigentlich sieht“.

Seit ihm 1963 mit Scharouns Neubau der Berliner Philharmonie, der nicht ohne Grund „Zir­kus Karajani“ genannt wurde, ein grandioses Podium seiner Selbstdarstellung geschaffen wurde, „ein West-Symbol“ für die ganze Welt“, war dieses Gebäude das Zentrum seines weltweiten Erfolgs. Karajan stand in der Mitte, umgeben von Publikum, ein Herrscher im Reich der Töne, der Komponisten und ihrer Musik.

Er war präsent, um nicht zu sagen omnipräsent und er „ist und bleibt der Goldstandard“ in kommerzieller wie ästhetischer Hinsicht nicht nur für das Gelblabel, so Julian Caskel. Karajan hatte ja nicht nur eine dominante Stellung im Musikleben, seine Präsenz in vielen Medien war überwältigend, er hinterließ eine konkurrenzlose Fülle medial gespeicherter Aufführungen. Musikjournalistisch hat Peter Ueh­ling mit seiner Karajan-Biographie (2006) nahezu alles zusammengetragen, was aus musik­journalistischer Perspektive zum Fall Karajan gesagt werden muss und kann. Aber Karajan ist auch ein Glücksfall und Paradebeispiel auch für die „Interpretationsforschung“. Auf 446 Seit­en wird daher in Musikanalysen untersucht, „ob zwischen dem kommerziellen Monopol und der künstlerischen Methode ein Zusammen­hang besteht oder nicht.“ An den Beispielen seiner Monteverdi- „Neuerfindung“, der Inter­pretationen der „Alpensinfonie“ (R. Strauss), der sechsten Sinfonie Beethovens, der Bruck­ner-, Tschaikowski- und Sibelius-Aufnahmen, aber auch Debussys und des ganzen franzö­sischen Repertoires Karajans werden Muster einer „Warenästhetik technisch reproduzierter Musik“ deutlich sichtbar, auch und gerade im Vergleich mit Dirigenten wie Barbirolli, Bernstein oder Mengelberg.

Karajan war mehr als das, was der umstrittene Komponist Hans Pfitzner (der sich geradezu widerlich den Nazis anbiederte) einmal als „Nur -Dirigent“ bezeichnete. Was der Musik­philosoph Th. W. Adorno mit Bezug auf die „musika­lische Verwendung des Radios“ einmal den „Bildcharakter“ der Musik nannte, bestätigt Karajans eigenes Bekenntnis „Der Mensch ist von Geburt aus zuerst optisch.“ Karajan war der unanfechtbare König im Reich der Optik des glanzvollen Scheins. Er war aber auch ein Klang-Magier, was nicht vergessen werden sollte, ein Tüftler und Probierer, ein musikalischer Präzisionsfanatiker und „Ausbund von Diszi­plin“, wie Altkanzler Helmut Schmidt einmal sagte. Mancher Philharmoniker wünschte sich heute, allen Querrelen zum Trotz, die zum Bruch mit dem Maestro führten, Dietrich Steinbeck beschreibt das gewissenhaft, einen neuen Herbert von Karajan. Aber der ist nicht in Sicht (Der Karajan-Diskurs: Perspektiven heutiger Rezeption. Herausgegeben von Julian Caskel ; Verlag Königshausen & Neumann ; ISBN 978-3-8260-7144-7; 2020 – 446 Seiten). Dieter David Scholz