Fehltritt mit Carmen

 

Der heute sicher nicht mehr sehr vielen bekannte Dirigent Leo Blech wurde 87 Jahre alt. Sein langes, an Ereignissen reiches Leben auf nur hundert Seiten abhandeln zu wollen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Dazu noch im Format A 6. Die Schriftenreihe Jüdische Miniaturen gibt aber nun mal nicht mehr Platz her. So sind die Vorgaben. Es blieb also keine Wahl. Verknappung und Konzentration können auch von Vorteil sein. So ein Büchlein lässt sich gut verstauen, man ist schnell durch, findet Stellen und Sätze, die einem wichtig und nachdankenswert erscheinen, leicht wieder, merkt sich Einzelheiten, gelungene wie weniger gelungene. Fast jeder Satz ist ein Fakt. Ich habe das im Verlag Hentrich & Hentrich unter Schirmherrschaft des Centrum Judaicum erschienen Büchlein über den Komponisten, Kapellmeister und Generalmusikdirektor mit Erbauung und Gewinn gelesen. Auch deshalb gern gelesen, weil es an einigen Stellen zum Widerspruch herausfordert. Solche Bücher sind mir die liebsten.

2013 wurde das Grab von Leo Blech in Berlin eingepennt, der Stein später an anderer Stelle wieder aufgestellt. Foto: Sommerroggen

2013 wurde das Grab von Leo Blech in Berlin eingeebnet, der Stein später an anderer Stelle wieder aufgestellt. Foto: Sommeregger

Der Einstieg von Herausgeberin Jutta Lambrecht ist kämpferisch. Zu Recht. 2013 hatte Berlin unter dem Motto „Zerstörte Vielfalt“ auch im öffentlichen Straßenbild jener jüdischen Künstler gedacht, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurden. Blech war einer von ihnen. Und genau in diesem Jahr wurde sein Grab auf dem idyllischen Friedhof an der Berliner Heerstraße, wo auch Dietrich Fischer-Dieskau, Frida Leider, Margarete Klose und Frieda Hempel ihre letzten Ruhestätten haben, dem Erdboden gleichgemacht. Der Stein – wie es im Text noch gnädig heißt – „abgesägt und hingeworfen gegenüber auf der Wiese“. Man könnte es auch viel deutlicher formulieren. Ungläubigkeit machte sich breit, Protest regte sich. Auch ich habe damals fassungslos an diesem Ort gestanden, an dem sich ein völlig emotionsloser Verwaltungsakt auf unterster Ebene vollzogen hatte. Liegefristen waren ausgelaufen. Ein Grab wird „aufgelassen“, heißt es in Amtsdeutsch. Behördliche Erklärungsversuche blieben halbherzig. Dem Protest ist es zu verdanken, dass der Stein wieder aufgerichtet wurde. Nun steht er da, fünf Meter weiter und nicht am originalen Ort und ist allein schon dadurch eine Mahnung der besonderen Art. Bürokratie verfolgte Blech noch über seinen Tod hinaus. Plötzlich war mir wieder deutlich geworden, wie hohl Gedenken an Opfer sein kann, wenn es zum Ritual erstarrt, sich selbstständig macht und nicht mit konkreten Inhalten ausgefüllt wird.

So sieht der Grabstein von Leo Blech und seiner Frau Martha jetzt aus. Besucher legen oft Blumen nieder. Foto: Winter

So sieht der Grabstein von Leo Blech und seiner Frau Martha auf dem Friedhof an der Heerstraße jetzt aus. Besucher legen oft Blumen nieder. Foto: Winter

Das kleine Buch will ein Denkmal der besonderen Art sein, eines, das man auch bei sich tragen kann. Ist es Oberflächlichkeit, ist es der Verknappung geschuldet? Manche Fakten werden einfach nicht hinreichend ausgebreitet und hinterfragt. Im Lebensabriss zu Blech, den Peter Sühring beigesteuert hat, erscheint auch der einflussreiche Lehrer, der Komponist Engelbert Humperdinck, dieser „letzte Privatsekretär und Assistent“ Wagners „mit so eigenen Kopf“ dass er diesem – gemeint ist Wagner – „ab und an etwas zu Ende komponieren durfte – beispielsweise die Verwandlungsmusik im Parsifal“. Das ist genauso zweifelhaft wie die Feststellung historisch falsch ist, dass die glanzvolle Ära an der Berliner Staatsoper Unter den Linden durch „die Übergabe der politischen Macht an die NSDAP“ zu Ende ging. Wer hat da was übergeben? Kürze rächt sich auch, weil sich die komplizierten Themen im Lebenslauf von Leo Blech offenkundig doch nicht so rasch und flott abhandeln lassen. Das gilt auch für die Umstände seiner Emigration. Bis 1937 wirkte Blech als Generalmusikdirektor an der Staatsoper in Berlin und ging erst 1938 ins Exil nach Riga – von dort aus über Berlin nach Schweden. Nun muss sich kein rassistisch Verfolgter für die Umstände seiner Flucht rechtfertigen. Das ganz bestimmt nicht.

Wenn aber fast achtzig Jahre später ein so dramatisches Kapitel eines Lebens nacherzählt wird, sollten die Fakten schon etwas deutlicher hervortreten. Fest steht, dass Blech 1941 nach dem Überfall durch Truppen Hitlerdeutschland Riga verließ. Seine Deportation soll unmittelbar bevorgestanden haben. Dass er sich dieser mit einem per Kurier übermittelten Hilfeersuchen beim Berliner Generalintendanten Heinz Tietjen, den „letzten noch lebenden Preußischen Generalmusikdirektor zu retten, entziehen konnte, wirkt in dieser Verkürzung zu glatt. Als ob sich Barbaren um Ämter und große Verdienste von gestern geschert hätten. Jedenfalls bekam Blech freies Geleit. In der schwedischen Botschaft in Berlin, so ist zu lesen, nahmen er und seine Frau ihre Visa in Empfang. In anderen Quellen ist davon die Rede, Blech habe von seiner Abreise nach Stockholm auch noch an seiner einstigen Wirkungsstätte, der Staatsoper, Station gemacht. Das entspricht offenbar nicht den Tatsachen.

In der Biographie der Sängerin Marta Fuchs gibt es auch einen interessanten Hinweis auf Leo Blech.

In der Biographie der Sängerin Marta Fuchs gibt es auch einen interessanten Hinweis auf Leo Blech.

In den Buch „Marta Fuchs – Das schwäbische Götterkind“ von Roswitha von dem Borne und Johannes Lenz, 2010 im Stuttgarter Mayer-Verlag erschienen (ISBN 978-386783-010-2), ist zu lesen: „Am 1. Juni 1933 erfolgte die Kündigung aller jüdischen Mitglieder der Berliner Staatsoper – außer Leo Blech, Alexander Kipnis und Emanuel List, die Hitler Winifred Wagner für Bayreuth versprochen hatte.“ Diese Spur, die mir interessant und plausibel erscheint, fand ich nirgendwo sonst verfolgt – auch nicht in dem neuen Büchlein. Sollte sie doch ins Leere laufen? Und noch ein Satz, der in seiner schwer erträglichen Harmlosigkeit und Naivität völlig fehl am Platz ist in dieser Miniatur. Sühring beschreibt die Aufnahme Blechs nach seiner Rückkehr aus dem Exil: „Das Berliner Opernpublikum bereitete ihm einen stürmischen Empfang, so, als sei seit der letzten La-Bohéme-Aufführung unter Blech im Jahr 1937 nichts passiert, oder gerade weil dazwischen so viel Schlechtes passiert war und Blech trotzdem zu seinem Berliner Publikum zurückgekehrt ist.

Kommt Sühring im Lebensabriss auf den Komponisten Leo Blech zu sprechen, hat er viel mitzuteilen. Leser gewinnen sogar einen Eindruck davon, wie einzelne Werke geklungen haben. Auf Tondokumenten lässt sich kaum etwas nachhören. In gut sortierten privaten Sammlungen findet sich der Einakter Versiegelt, 1954 beim damaligen NWDR eingespielt unter der Leitung von Herbert Sandberg, dem Schwiegersohn von Blech. Für die Rolle der Else war aus Stockholm die junge Elisabeth Söderström angereist. Das Werk erstreckt sich über weite Strecken im Parlandostil, hält aber immer wieder zu hinreißen melodischen Einfällen inne.

In ihren Memoiren beschreibt Birgit Nilsson auch ihre Begegnung mit Blech. Ihre Kritik soll dem Dirigenten abträglich gewesen sein.

In ihren Memoiren beschreibt Birgit Nilsson auch ihre Begegnung mit Blech. Ihre Kritik soll dem Dirigenten abträglich gewesen sein.

Das Kapital über die Zeit in Schweden bezieht seine Schwäche vor allem aus dem zweifelhaften Konstrukt, dass „eine eventuelle negative Färbung von Blechs Ruf in Schweden“ der Sängerin Birgit Nilsson zuzuschreiben sei. Warum? Sie hat in ihren 1997 in deutscher Übersetzung im Wolfgang Krüger Verlag (ISBN 3-8105-1310-5) erschienen Memoiren „La Nilsson“ die gemeinsame Arbeit mit Blech bei einer Aufführung von Webers Freischütz geschildert und soll diese Episode immer wieder auch gesprächsweise wiederholt haben. Sie stand am Beginn ihrer glanzvollen Karriere und sang erstmals auf der Bühne die Agathe im Freischütz – von Angst und Lampenfiber geschüttelt. Am Pult Leo Blech. In der großen Arie „betrog“ sie – wie es heißt – den „Maestro“ um „eine Viertelnote“. Daraufhin krachte es. Eine Erfahrung, die auch andere Sänger mit Blech machten. Am Ende erlösende Versöhnung. Blech erinnerte sich nach seiner Rückkehr aus dem Exil mit Freude an die Nilsson, und wünschte sie sich 1951 bei einer konzertanten Aufführung des ersten Aufzuges der Walküre im Berliner Titania-Palast als Sieglinde. Es war ihr erstes Auslandsgastspiel. Übrigens werden die Leo-Blech-Episoden in dem Buch von der Nilsson glänzend erzählt. Ich frage mich ernsthaft, wie sie nach so langer Zeit noch nachwirken sollen auf die Erinnerung an Blech in Schweden? Das Kapitel bei Blech ist auch sprachlich dünn. Für die Übersetzung der zehn Seiten mit teilweise sehr langen Sätzen aus dem Schwedischen mussten drei (!) Personen eingesetzt werden. Respekt vor der fremden Leistung hätte es geboten, auch noch Susanne Dahmann, die das Buch der Nilsson ins Deutsche übertragen hat, als Vierte zu nennen. Die Zitate daraus folgen nämlich Wort für Wort ihrer Übersetzung, ohne dass es kenntlich gemacht wird.

Leo Blech auf einer Fotografie, die in der Sammlung Manskopf der Frankfurter Universitätsbibliothek aufbewahrt wird.

Der junge Leo Blech auf einer Fotografie, die in der Sammlung Manskopf der Frankfurter Universitätsbibliothek aufbewahrt wird.

Seine größten Stärken offenbart das Buch, wenn Leo Blech selbst zu Wort kommt. Rüdiger Albrecht durchforstete Interviews in Rundfunk- und Zeitungsarchiven, die nach Blechs Rückkehr 1949 (im Buch etwas technokratisch Remigration genannt) entstanden. Daraus hat er Zitate zusammengestellt und redaktionell in Zusammenhänge gebracht. Das liest sich sehr gut. Blech nach Beendigung seiner Karriere 1953: „Mein Schluss am Pult, der war ja Carmen. Da machte ich einen Fehltritt, in meinem Alter soll man das nicht und mit Carmen schon gar nicht. Und da stürzte ich doch am Pult und hatte einen Bluterguss am Knie. Das war wie eine Warnung, jetzt ist Zeit, Schluss zu machen. Und ich muss mir sagen, nach 62 Jahren … nach 62 Jahren strammer Arbeit hatte ich ein Recht, aufzuhören.“ Höchst informativ ist auch das Kapitel „Leo Blech und die Schallplatte“ von Peter Sommeregger, der auch Erinnerungen von Zeitzeugen – darunter Frida Leider, Erna Berger und Helge Rosvaenge – zusammengestellt hat. Angesicht des großen Umfangs der Diskographie konnten nur die wichtigsten Einspielungen erwähnt werden. Sammler dürften sich zu weiterführenden Recherchen ermuntert fühlen. Für mich das interessanteste Blech-Dokument, das in der Diskographie nicht noch einmal erwähnt wird, weil zuvor schon an anderer Stelle genannt, ist die filmische Aufnahme des Meistersinger-Vorspiels. Es kann – wie auch in einer Fußnote vermerkt – im Internet auf youtube angesehen und angehört werden. Die Korrektur des dort genannten Aufnahmejahres 1929 in jetzt 1932 ist notwendig.

Ganz nebenbei ist die Miniatur mit ihren hundert kleinformatigen Seiten ein Lehrstück über die Entstehung und Herstellung mancher Bücher im Jahr 2015 in Deutschland. Der Band mit der Nummer 173 (ISBN 978-3-95565-091-9) ist hübsch gestaltet und mit zahlreichen Fotos ausgestattet. Er wirkten fünf Autoren und vier Übersetzer mit. Obwohl in einem seriösen Verlag erschienen, mussten die Druckkosten offenbar privat aufgebracht werden. Namentlich werden dafür fast siebzig Spender genannt, darunter das Joseph-Schmidt-Archiv, die Mariann Steegmann Foundation, der Ortus-Verlag sowie die Staatskapelle Berlin. Arme, bemitleidenswerte Autoren, für die am wenigsten abfallen dürfte. Trotz kleiner Einwendungen, ist dieser Neuerscheinung eine große Verbreitung zu wünschen.  Rüdiger Winter

  1. Henning Beil

    Dies Buch werde ich mir auf jeden Fall besorgen. Blech hat das Berliner Opernleben entscheidend beeinflusst. Er müsste viel bekannter sein und gehört für meine Begriffe zu den bedeutendsten Operndirigenten des 20. Jahrhunderts. Es gibt sensationelle Aufnahmen, die er geleitet hat, zum Beispiel die wundervollen Ausschnitte aus der Walküre mit Leider und Schor.

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