Er hüpft von Tür zu Tür

 

„Herr Wieler hat mit seiner Gelassenheit alle angesteckt. Wenn er morgens kommt, strahlt er, hüpft von Tür zu Tür und wünscht jedem einen guten Morgen. Egal ob ich Handschuhe anhabe oder nicht, er drückt gleich meine Hand“. Die Reinigungskraft Anastasia Koulakidou kommt genauso zu Wort wie die Regisseure Castorf und Konwitschny, Kirill Serebrennikov mit seinen Ausführungen über das russische Theater, die Komponisten Lachenmann und Rihm, die über ihren Einsatz der menschlichen Stimme in ihren Werken sprechen, GMD Cambreling, Inspizienten, Dramaturgen, Leiter der Werkstätten und einige der jungen und der arrivierten Sänger. Das Wort von den Stars verbietet sich, da durchgehend von der Institution des Ensembletheaters geschwärmt und die „Vielstimmigkeit des Stuttgarter Biotops der Ära Wieler zum Klingen“ gebracht wird. Dazu gehören alle Mitwirkenden vor und hinter Bühne. Die Pressedame Sarah Hörr bringt es auf den Punkt, „Jossis sensible Art der Gesprächsführung hat Spuren hinterlassen“.

Der schwere, rund 500 Seiten dicke, von Sergio Morabito herausgegebene rote Leinenband, der die grafische Anmutung der Programmhefte fortführt, zieht ein Resümee der Sieben Spielzeiten unter der Intendanz von Jossi Wieler an der Oper Stuttgart und kommt, trotz der aufwändigen Gestaltung, wie ein Familienalbum (Verwandlungen, avedition Verlag für Architektur und Design, 524 Seiten, 200 Abbildungen) recht unprätentiös, sympathisch uneitel und ohne dogmatischen Unterton daher. Was sind auch sieben Jahre. Wieler inszeniert übrigens weitaus länger, seit einem Vierteljahrhundert, in Stuttgart. Es könnte genauso gut ein Tagungsband sein, der im seinem dritten Abschnitt einige Essays versammelt, die nochmals Schwerpunkte und Programmlinien der letzten sieben Jahre in Beziehung setzen, darunter die russischen Oper, die französische Oper von Platée über La juive und die deutsche Medea bis Damnation de Faust oder den Bellini-Schwerpunkt und die neuen Werke; mit einer Uraufführung, Toshio Hosokawas Erbeben. Träume, wird Jossi Wieler seiner Stuttgarter Opernintendanz, die man bereitwillig schon jetzt als Ära zu bezeichnen gewillt ist, beenden. Im Mittelteil kann man sich anhand der Fotos aller 35 Neuproduktionen (ein Verzeichnis der Premieren, Wiederaufnahmen und sonstigen Programmpunkte fehlt natürlich auch nicht) prägende Aufführungen in Erinnerung rufen, Wielers eigene Inszenierungen von Janáčeks Osud, das 1958 in Stuttgart seine erste Aufführung im Westen erlebt hatte, und in der ersten Wieler-Spielzeit neu herauskam (mit Schönbergs Die glückliche Hand), Denisovs Der Schaum der Tage und Ariadne auf Naxos, unbedingt auch die virtuos in Szene gesetzte  Uraufführung von Mark Andrés Johannes Reuchlin-Oper Wunderzaichen, Calixto Bieitos Platée und The Fairy Queen, Kirill Serebrennikovs Salome, Christoph Marthalers Les contes d’ Hoffmann, Denis Volpis Der Tod in Venedig, auch Castorfs Faust. Manches war nicht mehr präsent. Manches derart in Vergessenheit geraten, dass ich nachsehen musste, ob ich die Aufführung tatsächlich gesehen habe, wie Wozzeck, Don Giovanni, Iphigenie in Aulis und La Bohème (alle übrigens von Andrea Moses, die Alexander Kluge Auskunft über ihre Prägung durch die DDR gibt) oder Così fan tutte von Yannis Houvardas. In Verwandlungen geht es aber nicht um Erfolge und Statistiken, sondern in den Gesprächen von Machern und Mitwirkenden, die den ersten Teil des Buches ausmachen, im Wesentlichen um den Kern des Theatermachens. Beispielsweise den Aufbau eines Ensembles mit ausgewogener Altersstruktur, für welches die mittlerweile in Straßburg als Directrice amtierende Eva Kleinitz, wohin sie ihren Gönner Wieler für die kommende Spielzeit für den Freischütz verpflichtet hat, als Operndirektorin zuständig war. Ihre Überlegungen zur Unkündbarkeit von Sängern über „Kontinuität und Weiterentwicklung“ bestimmen den Opernalltag und das besondere Klima des Hauses, „denn man braucht ganz viele tolle Charakterfiguren. Ich finde, dass gerade eine gemischte Altersstruktur ein Ensemble ausmacht“. Helene Schneidermann gehört seit 34 Jahren dem Ensemble an, „länger als alle, die ich kenne“. Ihr Gespräch mit der Sopranistin Esther Dierkes bietet unverkrampfte Einblicke in das Opernmachen, ebenso wie die erfrischende Unterhaltung der Sopranistin Josefin Feiler mit ihrer Schauspielkollegin Caroline Junghanns anläßlich der Zusammenarbeit der Sparten bei The Fairy Queen, „vielleicht war die Tanzerei genau deshalb so wichtig. Das war eine Sache, die wir alle gleich schlecht machten“. Matthias Klinks Überlegungen zu seiner Gestaltung des Herodes und Aschenbach habe ich genauso gerne gelesen wie Bettina Gieses Ausführungen zum Opernstudio oder die Chronologie einer kurzfristigen Umbesetzung bei der Tosca aus der Sicht der Abendregisseurin. Fast alle Gesprächsteilnehmer, so auch Konwitschny „Ein Ensemble ist am Ort wie ein Baum und hat Wurzeln“), stimmen auf besondere Weise in das Lob auf das Ensemble und die Stuttgarter Arbeitsbedingungen ein. Dazu die Antwort der Dramaturgin Ann-Christine Mecke auf die Frage, weshalb sie ausgerechnet nach Stuttgart ging, „Wenn du Fußball spielst und Real Madrid ruft an, sagst du auch nicht: da mag ich den Dialekt nicht so!“. Rolf Fath