Viele unvergessliche Stunden

 

Dem Nachruf der Salzburger Festspiele auf den Tod des bedeutenden Dirigenten Nikolaus Harnoncourt im Alter von 86 Jahren am 5. März 2016 schließen wir uns an und bedauern einmal mehr den Fortgang eines so großen Musikers, operalounge.de: Als vergangenen Sommer Beethovens Missa solemnis unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt am Pult seines Concentus Musicus Wien erklang, war in keinster Weise abzusehen, dass sich damit für die Salzburger Festspiele ein Kreis schließen sollte, der 1992 mit der Aufführung ebenjenes Werkes begonnen hatte: dem Debüt von Nikolaus Harnoncourt bei den Salzburger Festspielen, damals mit dem Chamber Orchestra of Europe. Damals wie heute kompromisslos, aufrüttelnd, überwältigend. Die Nachricht von seinem Tod löst in der ganzen Musikwelt große Betroffenheit aus und auch uns bleibt nur, mit größter Dankbarkeit all jener Sternstunden zu gedenken, mit denen er knapp ein Vierteljahrhundert lang unseren Festspielen wahrhaft Unerhörtes geschenkt hat.

Nikolaus Harnoncourt/ Foto Christian Jungwirth/ Salzburger festspiele

Nikolaus Harnoncourt/ Foto Christian Jungwirth/ Salzburger Festspiele

Karriere in Salzburg machte Harnoncourt zuerst auf der anderen Salzachseite. Von 1972 an unterrichtete er Aufführungspraxis und historische Instrumentenkunde als Professor am Salzburger Mozarteum. Der Mozartwoche ist sein erster Auftritt als Dirigent in Österreich zu verdanken, 1980 am Pult des Concertgebouw Orchesters Amsterdam. Auch für sein Debüt mit den Wiener Philharmonikern sorgte die Stiftung Mozarteum. Denn zu seinen Lebzeiten wollte Herbert von Karajan ihn nicht bei den Festspielen sehen. Karajan und Harnoncourt das waren zwei musikalische Welten. Eines hatten sie allerdings gemeinsam. Beiden ging es um die Wahrheit in der Musik, beide waren lebenslang Suchende, aber diese Suche gestaltete sich bei beiden radikal anders.

1992 war es dann endlich soweit, Nikolaus Harnoncourt stand erstmals am Podium der Salzburger Festspiele. Seither folgten Sternstunden in Konzert – darunter ein eigener Beethoven-Zyklus – und unvergessliche Opernproduktionen wie L’incoronazione di Poppea, zweimal Mozarts Le nozze di Figaro sowie Don Giovanni und La clemenza di Tito. Dabei gelang ihm immer wieder in scheinbar Bekanntem unbekannte Momente aufleben zu lassen, scheinbar Vertrautes völlig neu erleben zu lassen und seine Zuhörer zu einer Entdeckungsgemeinschaft zusammenzufügen.

„Die Eröffnungspremiere mit Monteverdis L’incoronazione di Poppea gestaltete sich zu einem persönlichen Triumph des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt“, schrieb Gerhard Rohde am 26. Juli 1993 in der FAZ.

Persönliche Triumphe hatte Harnoncourt viele. Aber trotzdem passte dieser Begriff nicht zu ihm. Um den persönlichen Triumph ging es ihm nie. Um die Kunst ging es ihm, um die Wahrheit. Das hat Nikolaus Harnoncourt so mitreißend, so einzigartig gemacht. „Die Kunst ist eine Sprache, die Verborgenes aufdeckt, Verschlossenes aufreißt, Innerstes fühlbar macht, die mahnt – erzählt – erschüttert – beglückt…Die Schönheit in der Kunst schließt das Gegensätzliche ein und heißt Wahrheit und kann beklemmend sein“, postulierte Harnoncourt in seiner Rede zur Festspieleröffnung 1995. Eine bemerkenswerte Rede, in der er auch nicht davor zurückschreckte unangenehme Wahrheiten auszusprechen und die Verantwortung des Künstlers und des Publikums einmahnte.

Helga Rabl-Stadler und Sven-Eric Bechtolf, Direktorium der Salzburger Festspiele: „Nikolaus Harnoncourt der Fackelträger wird uns fehlen, fehlt uns heute schon. Unser Mitgefühl gilt in dieser dunklen Stunde seiner Familie vor allem seiner Frau Alice. Sie war sein Lebensmensch, seine unersetzliche private und berufliche Partnerin. Beethovens  Neunte Symphonie, die er am 25. Juli bei den Festspielen dirigieren hätte sollen, sei ihm gewidmet. Die schwarze Flagge weht auf unserem Haus, in dem er uns so viele unvergessliche Stunden bereitet hat.“

Nikolaus Harnoncourt/ Foto Festival Styriarte/ Binder/ Salzburger festspiele

Nikolaus Harnoncourt/ Foto Festival Styriarte/ Binder/ Salzburger Festspiele

Nikolaus Harnoncourt, 1929 in Berlin geboren, wuchs in Graz auf und studierte Violoncello bei Paul Grümmer und Emanuel Brabec in Wien. Von 1952 bis 1969 war er Mitglied der Wiener Symphoniker, gründete aber parallel dazu im Jahr 1953 den Concentus Musicus Wien, der die Neubewertung der Aufführungspraxis von Musik aus Renaissance, Barock und Klassik maßgeblich mitbestimmte. Zunächst leitete Nikolaus Harnoncourt sein Ensemble zumeist vom Cellopult aus; seit 1970 aber verlagerte er seine Arbeit zunehmend auf die klassische Dirigententätigkeit und nahm Engagements bei anderen Orchestern an. Seine erste Operneinstudierung, Monteverdis Il ritorno d’Ulisse in patria, entstand 1971 im Theater an der Wien; seine Verbindung mit dem Zürcher Opernhaus begann ebenfalls in den siebziger Jahren mit einem Monteverdi- und einem Mozart-Zyklus.

Zu den zahlreichen Häusern und Festivals, an dener er als Operndirigent tätig ist, gehören u. a. die Wiener Staatsoper, die Nederlandse Opera Amsterdam und die Salzburger Festspielen, wo er im Sommer 2012 eine neue Zauberflöteherausbrachte.
Im Konzertsaal war er regelmäßiger Gast des Königlichen Concertgebouworkest, des Chamber Orchestra of Europe sowie der Wiener und der Berliner Philharmoniker. Eine enge Partnerschaft besteht mit der styriarte in Graz, die 1985 eigens für ihn gegründet wurde.
Als Autor und Pädagoge vermittelt er seine Erkenntnisse an ein breites Publikum und die nachfolgenden Generationen. Die Diskografie von Nikolaus Harnoncourt beinhaltet nahezu 500 vielfach preisgekrönte Einspielungen.
Für seine Verdienste um das Musikleben wurde er u. a. mit dem Siemens-Musikpreis (2002) und dem Kyoto-Preis (2005) gewürdigt. Er ist Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde, der Konzerthausgesellschaft in Wien sowie der Musikuniversitäten Graz und Wien, außerdem erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Edinburgh, der Salzburger Universität Mozarteum und der Hochschule für Musik Köln. (Quelle: Salzburger Festspiele, Pressestelle, Foto oben Marco Borggreve/ Salzburger Festspiele – mit Dank auch für die obigen)