Nello Santi

 

Ein Meister der feurigen Klänge. Wenn dieser kraftgeladene, korpulente Mann mit wuchtigen Schritten das Dirigentenpult betrat, wußte man im Publikum, daß ein lebhafter, spannender, mitunter auch geräuschvoller Opernabend bevorstand. Nello Santi, der nun 88jährig in Zürich verstorben ist, war kein Mann der leisen Töne. Es wäre aber ungerecht, ihn deshalb bloß als Krawallmacher unter den Operndirigenten zu bezeichnen. Santi liebte den vollen Klang, in ihm brannte in jedem Moment die hitzige Leidenschaft des Italieners. Sein Temperament konnte er am besten in der Musik seines Geburtslandes ausleben, im weiten Opernreich von Rossini, Bellini, Donizetti, über Verdi und Puccini bis zu den Verismo-Komponisten. Eine „Tosca“ unter Santi loderte in allen Farben, schon mit den ersten Akkorden war das volle Drama da. Und wenn er eine Kulmination wie das Te Deum in Puccinis Oper aufbaute, dann hatte das eine Großartigkeit, die nicht allein auf Lautstärke und künstlerischer Derbheit beruhte. Freilich brauchte er dazu auch Gesangskräfte auf der Bühne, die im Strom der Klänge nicht untergingen. Santi, der selbst ausgebildeter Sänger war, konnte – ähnlich wie sein deutscher Fachkollege Horst Stein – fallweise vom Pult aus assistieren.

„Maestro Tschinello“ – so nannten ihn in Wien die Stehplatzbesucher. Ein Spitzname, der sicher nicht immer bös gemeint war, denn viele Wiener Opernbesucher denken heute noch mit Dankbarkeit an so manchen unvergeßlichen Nello Santi-Abend zurück. Rund achtzigmal hat er in Wien dirigiert, italienische Opern, wie anders nicht denkbar. Davon am häufigsten „Andrea Chenier“ von Giordano, eine Oper, die wie für ihn geschaffen war. Oft auch Puccinis „La Bohème“, und da war doch spürbar, daß der sanguinische Italiener auch für die lyrische Sphäre Empfindung hatte.

Nello Santi war in allen großen Opernhäusern der Welt zu Hause, aber seine eigentliche künstlerische Heimat war die Schweiz, das Opernhaus Zürich. Dort wirkte er durch mehr als sechs Jahrzehnte, als Musikdirektor des Züricher Opernhauses, als Dirigent und auch als Lehrer, der viel von seinem profunden Wissen weiterreichen konnte. In der Züricher Direktion des Österreichers Hermann Juch (1964-1975) wurden Nello Santi viele interessante Aufgaben zugeteilt, so Rossinis „Semiramide“, Bellinis „ll Pirata“, Donizettis „Poliuto“.

Santi war ein Gedächtnisphänomen, wie man es in dieser Ausprägung nur höchst selten vorfindet. Niemals sah man ihn aus der Partitur dirigieren, jede Musik, die er interpretierte, hatte er Note für Note im Gedächtnis. Allein diese Gabe zeichnet ihn als ein Musiktalent hohen Grades aus.

Nello Santi, geboren am 22. September 1931 in Adria (Venetien) hat als Zwanzigjähriger in Turin mit Verdis „Rigoletto“, seiner Lieblingsoper seit Kindertagen, debütiert und stand bald danach in der vordersten Reihe der italienischen Opern-Kapellmeister.

In seinen letzten Lebensjahren war der Maestro meistens nur zu besonderen Anlässen als Operndirigent zu erleben. Seine letzte Arbeit im Züricher Opernhaus galt Donizettis „Lucia di Lammermoor“, Februar 2017, in einer Inszenierung von Damiano Michieletti. Nach der Aufführung gab es eine Publikums-Ovation für Santi, die länger als zehn Minuten dauerte. Es war dies Santis dritte „Lucia“-Inszenierung dieser Oper in Zürich. In seiner Wahlheimat hat er fast hundert Premieren dirigiert und nicht weniger als acht Opern-Direktionen überlebt.

Nicht immer war sein Kontakt mit Publikum und Presse harmonisch, in München soll der schlagkräftige Musiker ebenso schlagkräftige Ohrfeigen ausgeteilt haben – an ungezogene Buh-Rufer.

Nello Santi hat niemals Abschied vom Dirigentenpult genommen, er besaß sogar noch einen Vertrag für die Saison 2020/21. Den wird er wohl im Jenseits erfüllen müssen, umgeben von herrlichen italienischen Opernmelodien und Belcantostimmen. Clemens Höslinger

 

 (Der Autor und der Donizetti-Verein Wien stellten uns diesen Artikel liebenswürdiger Weise zur Verfügung, in dessen Mitteilungsblättern er erschienen ist; Dank auch an den Obmann Alfred Gänsthaler für seine Vermittlung!)