Victor Herberts „Fortune Teller“

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In Dublin geboren, in Deutschland aufgewachsen und am Stuttgarter Konservatorium als Cellist ausgebildet, spielte Victor Herbert (1859-1924) eine Zeitlang in der Kapelle von Johann Strauß in Wien und folgte dann seiner Frau Therese Förster, die als Sopranistin an die Metropolitan Opera engagiert wurde, nach Amerika, wo er sich erst als Musiker, dann als Dirigent und schließlich als Komponist durchsetzte. Er gilt als der Vater der amerikanischen Operette und hat an die 50 Stücke dieser Gattung geschrieben, von denen einige auch verfilmt wurden, so Babes in Toyland (mit Laurel & Hardy) und Naughty Marietta (mit Jeanette MacDonald). Auch große Operndiven von Amelita Galli-Curci bis Dorothy Kirsten, Eleanor Steber und Beverly Sills haben seine „Schlager“ gesungen. Auf deutschsprachigen Bühnen werden Herberts Stücke – trotz ihres europäischen Backgrounds – merkwürdigerweise nicht gespielt, was ein Versäumnis ist, wie man aus diversen amerikanischen CD-Importen schließen kann.

The Fortune Teller, Herberts sechste, als „comic opera“ ausgewiesene  Operette (1898), entstand als Vehikel für die Diva Alice Nielsen, die am Broadway als Kassenmagnet galt und eine eigene Company unterhielt. Gleich drei Rollen konnte sie in diesem Stück übernehmen, in denen sie bei permanentem Kostümwechsel praktisch den ganzen Abend ununterbrochen auf der Bühne stand: die Ballett-Elevin Irma, die noch nichts von ihrer großen Erbschaft weiß, ihren Bruder Fedor, der wegen einer Liebschaft mit einer Opernsängerin aus der Armee desertiert ist, und die Zigeunerin und dem Stück den Titel gebende Wahrsagerin Musette. Der Librettist Harry B. Smith bedient sich zweier uralter Komödienmotive – Doppelgänger und Zwillinge -, um eine hanebüchene, aber kurzweilige Intrige in Gang zu setzen.

Budapest als Schauplatz der Handlung und der Auftritt der Zigeunertruppe liefern dem Komponisten Musikanlässe ohne Zahl. Walzer und Csárdás dominieren einen großen Teil der Nummern, die nicht durchweg dramaturgisch begründet sind, sondern um ihrer selbst willen goutiert sein wollen. Herbert, der sich bei Johann Strauss offensichtlich einiges abgeguckt hat, transportiert die klassische Wiener Operette mit Glück in die Neue Welt. Aber es gibt in den Couplets auch Einflüsse von Sullivan und einige Songs nehmen schon den Stil späterer Musicals vorweg. Ein Hit jagt den nächsten, regelrechte Ohrwürmer sind der Csárdás „Romany Life“, der „Gypsy Love Song“ und die Medley-artigen „Serenades of All Nations“.

Die Produktion der Comic Opera Guild ist als „Weltpremiere“ deklariert. Da Teile des Aufführungsmaterials seit Jahrzehnten verschwunden waren, haben die Leiter der Truppe, Adam Aceto und Thomas Petiet, einige Nummern neu orchestriert bzw. neu getextet. Bei der vorliegenden Aufnahme handelt es sich um den Mitschnitt konzertanter Aufführungen aus dem Village Theater in Canton/Michigan vom Februar 2008. Wie man in Ausschnitten bei youtube sehen kann, hatten die aber durchaus theatralischen Charakter, denn die Sänger traten in Kostüm und Maske auf und deuteten szenische Aktionen zumindest an. So erklärt sich die gute Stimmung des Publikums, die sich auch auf der Audio-Konserve durchgehend mitteilt.

Victor Herbert:  signiertes Foto des Komponisten/OBA

Die ungewöhnliche Ankündigung auf dem Cover „Full Orchestra and Chorus“ ist wohl damit zu erklären, dass die Werke Herberts heute oft in semiprofessionellen Aufführungen mit stark reduzierter Besetzung auf die Bühne kommen. Der Dirigent Aceto lässt The Fortune Teller die Sorgfalt angedeihen, die dem Werk eines Meisters zukommt, und vermittelt mit seinen Musikern Schwung und mitreißende Theaterlaune. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Kimberley Dolanski, eine versierte Koloratursopranistin, die trotz ihres soubrettigen Timbres genügend Farben zeigt, um die drei Rollen voneinander abzusetzen und offenbar über viel komödiantisches Temperament verfügt. Die übrigen Sänger, voran Barbara Scanlon als überdrehte Operndiva Mlle. Pompon und David Troiano als adliger Möchtegern-Komponist Berezovski, geben ihren Rollen charakteristisches Profil. Der Bariton Donald Regan als Zigeuner Sandor, dem einige der schönsten Gesangsstücke zufallen, bleibt dagegen mit uninteressantem Material ziemlich blass.

Drei Jahre nach dieser Aufführung hat auch die Opera Light Ohio eine Produktion der Operette herausgebracht und beim Label Albany auf CD veröffentlicht. Den wenigen Ausschnitten nach zu urteilen, die ich daraus hören konnte, stellt sie aber keine ernstliche Konkurrenz zu dieser Pioniertat dar (Operetta Archives OA 1022). Ekkehard Pluta

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.