Mascagnis „Guglielmo Ratcliff“

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Eine der aufregendsten Opern Mascagnis ist dessen Gugliemo Ratcliff – seine erste Oper überhaupt und nach eigenem Bekunden auch seine liebste, für die er immer eine Schwäche hatte, die aber kein Erfolg beim ersten Durchlauf 1895 an der Scala war. Und die er für seinen durchschlagenden Erfolg wenig später, Cavalleria rusticana, auch hörbar ausbeutete. Bonn und Livorno sind die die  Aufführungen, die mir zu dieser Oper in moderner Zeit spontan einfallen (die atmosphärische Produktion von Giancarlo Del Monaco 1997 in Bonn und wenig später in Livorno beim Mascagni Festival mit Maurizio Frusoni); die Mono-Standardaufnahme stammt von der RAI 1963 unter La Rosa Parodi (Nuova Era), in Newark dirigierte der tapfere Alfredo Silipigni, Verist par excellence, das Werk 2003 mit Lando Bartolini, und Catania brachte die Oper (mit Elena Suliotis als verrückter Margherita) 1990 – immerhin. So selten, wie man also glaubt, ist dieser Erstling nicht dokumentiert. Dennoch fehlt eine wirklich gute und weiträumige Aufnahme. Der Mitschnitt aus Wexford vom Festival 2015  (dessen Opernaufführungen Charles Jernigan in operalounge.de besprach) ging über das irische Radio rte lyric und begeistert nun als luxuriös aufgemachte CD (rte lyricCD 152/ Amazon, 2 CDs mit schönem Booklet) rundherum (man erinnert sich an den prachtvollen Falstaff Balfes aus Wexford, der ebenfalls bei rte herauskam – wie schön, dass Radioanstalten endlich an die Veröffentlichung ihrer Mitschnitte herangehen). G. H.

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Matthias Käther hat sich die Aufnahme angehört: Pietro Mascagni gehört zu den bedauernswerten Komponisten, von denen nur ein Werk überlebt hat – in seinem Fall Cavalleria rusticana. Jetzt hat das Irische Label RTE lyric eine frühe Mascagni-Oper veröffentlicht. Wenn man Mascagni glaubt, ist Guglielmo Ratcliff sein Opus Magnum. Allerdings hat sich dieser Meinung noch nie irgendjemand angeschlossen. Trotzdem, es ist ein hochinteressantes Stück. Es ist nämlich das eigentliche Erstlingswerk des Maestros. Mascagni schrieb gerade daran, als er von dem Wettbewerb hörte, für den er dann Cavalleria rusticana komponiert hat. Dafür wurde der Ratcliff weggelegt, und erst Jahre später als berühmter Mann hat er sich getraut, diese Erstlingsoper fertig zu schreiben und dem Publikum vorzustellen. Mit relativ geringem Echo.

Denn der Ratcliff ist eine äußerst sonderbare Oper und keinesfalls geeignet für einen großen Publikumserfolg. Mascagni, in den späten 1880er Jahren noch unerfahren mit Operndingen, nutzte hier kein echtes Libretto, sondern vertonte ein düsteres Jugendwerk von Heinrich Heine.

Ratcliff, ein Psychopath reinsten Wassers, er wird von einem Mädchen abgewiesen und schwört, dass er alle neuen Bewerber umbringen wird. Und das macht er dann auch, und nicht nur das, am Ende tötet er nicht nur seine Rivalen, sondern auch seine Braut, ihren Vater und sich selbst. Das Libretto ist fast schon eine Parodie auf die Schauerromantik, doch Mascagni nimmt das alles völlig ernst, angeblich soll er während der Komposition selbst schwer verliebt gewesen sein und sich stark mit Ratcliff identifiziert haben. Er hat an der italienischen Übersetzung von Heine nichts geändert, und das bedeutet, es gibt außer einem wütenden Tenor und einem kochenden Orchester nicht viel Drumherum; keine Ensemble, keine Duette, keine großen Finali. Sehr verrückt das alles, fast schon eine Anti-Oper, aber grade in ihrer Wildheit ein Vorausblick auf die Moderne.

Die hier mitgeschnittene Aufführung vom Wexford-Festival 2015 in Irland zeigt – man kann auch aus diesem kruden Frühwerk einen echten Opernkrimi machen. Der Jubel war denn auch frenetisch, und das ist vor allem der begeisterten Crew des Festivals zu danken, die hier wirklich eins der schwierigsten Opern des Verismo bravourös und mit Leidenschaft auf die Bühne gebracht hat – allen voran der Italienische Tenor Angelo Villari, der als Ratcliff eine Monsterpartie singen muss. Keine wirklich schöne Stimme, aber das ist ja auch keine wirklich schöne Rolle. Den Furor, diese wahnsinnigen brodelnden Gefühlswallungen des irren Ratcliff, all das transportiert dieser Tenor wirklich gänsehauterzeugend. Und auch die anderen Protagonisten wie Maria-Angela Sicilia und David Stout sind keine Weltstars, aber wen kümmert’s? Sie füllen ihre Partien mit Enthusiasmus aus, und das zählt hier. Dies ist für mich ein schönes Beispiel dafür, dass Festival-Opern-Leidenschaft mitunter genauso viel oder noch mehr Spaß macht, als gediegenen Studioaufnahmen zu lauschen.

Generell ist es erfreulich, dass das großartige und von Opernfans in aller Welt geliebte kleine Wexford-Festival (das es übrigens schon seit über 65 Jahren gibt!) nun anscheinend im Label des irischen Rundfunks wieder einen Partner gefunden hat (Balfes Falstaff kam ebenfalls auf rte heraus). Ich habe immer bedauert, dass lange Zeit keine offiziellen Aufnahmen vieler Produktionen zu haben waren – denn Repertoire wie Umsetzung waren in den letzten 20 Jahren immer bemerkenswert. Wexford hat – was den künstlerischen Rang der Aufführungen angeht – das überschätzte Opernfestival in Martina Franca längst überholt (mit Angelo Villari (Tenor) | Mariaangela Sicilia (Sopran) | David Stout (Bariton) | Orchester und Chor des Wexford-Opernfestivals | Francesco Cilluffo; 2 CD RTE lyric 152). Matthias Käther

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Wexford Opera Festival 2015: „Guglielmo Ratcliff“/ Szene/ Foto Clive Barda

Werk und Umfeld: Die Entstehungsgeschichte von Guglielmo Ratcliff ist ein Spiegelmärchen. Der deutsche Dichter Heinrich Heine hatte in den 1820er Jahren ein leidenschaftliches dramatisches Gedicht mit dem Titel William Ratcliff geschrieben, nachdem Heine von der Frau, die er liebte, zurückgewiesen worden war. Das Gedicht, die barbarische Geschichte von der Rache eines Mannes, der von seiner Geliebten zurückgewiesen wurde, basiert auf einer alten schottischen „Mordballade“ namens „Edward“: „Warum trieft dein Schwert so von Blut?/Edward, Edward….“ Das heißt, Heines Gedicht „spiegelt“ die Volksballade wider. Etwa siebzig Jahre nach Heine befand sich Pietro Mascagni als junger Mann in der gleichen Situation der Zurückweisung durch seine Geliebte in der Heimatstadt und fand Trost in Andrea Maffei’s italienischer Übersetzung des Heine-Gedichts.

Mascagni begann mit der Komposition seines Ratcliff, in dem sich Heine spiegelt, in dem sich die schottische Ballade spiegelt, als Student in Mailand und trug das Manuskript mehrere Jahre mit sich herum, bevor es 1895 fertiggestellt wurde. Wie die Kompositionsgeschichte von Ratcliff ist auch die Geschichte selbst eine Reihe von Spiegeln. Die Ouvertüre enthält Worte aus der Ballade, die von Mad Margaret, einer geheimnisvollen Bewohnerin des Macgregor-Schlosses, gesungen wird, aber wir kennen die Bedeutung noch nicht, und wir werden das Ende der Ballade erst im vierten Akt hören. Im ersten Akt, im Schloss, ist Macgregors Tochter Maria mit dem Grafen Douglas verlobt. Auf dem Weg zum Schloss wird Douglas von Räubern überfallen, aber von einem geheimnisvollen Mann gerettet. Als Maria in Ohnmacht fällt, erklärt ihr Vater, dass sie einst von Ratcliff umworben wurde, ihn aber abgewiesen hat. Bei zwei weiteren Gelegenheiten hatte sie Verlobte, die jeweils von Ratcliff getötet wurden, der ihr daraufhin die blutige Hand des Freiers mit dem Verlobungsring zukommen ließ. Jetzt, so fürchtet sie, wird Douglas an der Reihe sein. In der Räuberschänke im zweiten Akt treffen wir auf den verdammten und verstoßenen Ratcliff – einen byronischen, übermäßig melodramatischen, melancholischen, psychotischen, überdrehten Antihelden, der behauptet, er habe die Freier in einem fairen Kampf getötet. Nun hat er den letzten Freier, Douglas, zu einem Duell herausgefordert und macht sich auf den Weg zum Schwarzen Felsen, um gegen ihn zu kämpfen, begleitet von der beunruhigenden Vision zweier Geister – den Geistern der toten Freier. In einer „wilden und stürmischen Nacht“ treffen die beiden Kontrahenten aufeinander; Douglas erkennt den Mann, der ihn vor den Räubern gerettet hat, und bittet ihn um Freundschaft, doch Ratcliff lehnt das Angebot ab. Mit Hilfe der Geister der Freier gewinnt Douglas das Duell, verschont aber Ratcliffs Leben. Nach einem orchestralen Intermezzo namens „Ratcliff’s Dream“, das gespielt wird, während Ratcliff verwundet daliegt, macht sich unser psychotischer, mörderischer, besessener und zurückgewiesener Anti-Held auf den Weg zum Schloss der Macgregors, wo Akt IV stattfindet. Die alte Margaret, die zwischen den Welten der Lebenden und der Toten zu vermitteln scheint, vervollständigt die Opernversion der Mörderballade, der Geschichte von Marias Mutter, „der schönen Elisa“, die von Edvardo Ratcliff, Guglielmos Vater, geliebt wurde. Elisa hat Edvardo zurückgewiesen, so wie Maria Guglielmo zurückgewiesen hat. Als Edvardo zu Elisa zurückkehrte, die inzwischen mit Macgregor (Marias Vater) verheiratet war, hat Macgregor ihn getötet. Nun gibt es also zwei weitere Geister – die Geister von Edvardo und Elisa, die sich jenseits des Grabes nicht umarmen können. Plötzlich taucht Guglielmo blutüberströmt in der Gegenwart auf. Er bittet Maria, mit ihm zu gehen. Als sie sich weigert, tötet er sie und dann sich selbst, aber nicht bevor er ihren Vater Macgregor getötet hat. Der arme alte Douglas trifft auf zwei Generationen von Geistern, die sich endlich jenseits des Grabes umarmen können. Die Geschichte von Maria und Gugliemo spiegelt die Geschichte von Elisa und Edvardo (Edward aus der Ballade) wider; die Geister der heutigen Generation spiegeln die Geister der Vergangenheit.

Diese gotische Geister- und Mordgeschichte, die typisch für Heines Zeit und Ort ist (deutsche Romantik der 1820er Jahre), wird in Mascagnis 1890er Jahren zu einer Art psychologischem Realismus und sorgt für ein seltsames Libretto. Abgesehen von der wilden Handlung ist das Libretto in Blankversen verfasst (ebenfalls seltsam für eine italienische Oper des 19. Jahrhunderts) und enthält vier sehr lange Monologe (ich würde sie in diesem durchkomponierten Werk nicht als Arien bezeichnen), die uns über alle notwendigen Fakten aus der Vergangenheit informieren. Mascagni vertonte die italienische Übersetzung von Heines deutscher Lyrik und nicht ein darauf basierendes Libretto, was den unoperativen Charakter des Librettos erklärt, das sich auf diese vier langen, erzählenden Soli konzentriert. Macgregor erhält eines im ersten Akt, Ratcliff jeweils eines im zweiten und dritten Akt und Mad Margaret eines im vierten Akt. Vor allem die übertriebene, übermäßig intensive Rolle des Ratcliff verlangt vom Tenor, dass er lange, lange Zeit in einer sehr hohen Tessitura mit voller emotionaler Kraft agiert. Es ist eine Killerrolle. Maria, die weibliche Hauptrolle und die Hauptperson der Liebe, hat vor dem vierten Akt fast nichts zu singen (in den Akten II und III taucht sie überhaupt nicht auf). All dies erklärt, warum Guglielmo Ratcliff seit seiner Uraufführung an der Scala im Februar 1895 so selten aufgeführt wurde.

Wexford Opera Festival 2015: „Guglielmo Ratcliff“/ Szene/ Foto Clive Barda

Was die Oper auszeichnet, ist eine üppige, romantische Partitur voller schwungvoller Melodien, die alle auch in Cavalleria zu Hause wären. Insbesondere eine melodische Phrase ist der identische Zwilling des melodischen Dreh- und Angelpunkts des Liedes „Somewhere over the rainbow“ – die wehmütige Melodie, die die Worte „over the rainbow“ begleitet. In der Oper scheint diese Melodie mit Ratcliffs Sehnsucht nach Maria verbunden zu sein, und sie taucht von Anfang an in verschiedenen Formen auf. Sie wird in dem schönen Intermezzo voll entwickelt, das Ratcliff begleitet, wenn er nach seinem Duell mit Douglas von Maria und den Geistern träumt. (Das Intermezzo wurde übrigens in Martin Scorseses Film Raging Bull von 1980 verwendet.) Man muss sich fragen, ob Harold Arlen die Schlüsselmelodie für sein Lied im Intermezzo der Oper gefunden hat, das bei weitem das bekannteste Stück aus Mascagnis Werk ist. Das Lied steht regelmäßig an der Spitze der Listen der bekanntesten Lieder des zwanzigsten Jahrhunderts und des besten Filmsongs aller Zeiten. Hat Arlen das alles Mascagni zu verdanken? Wie in der Cavalleria verstärkt Mascagni seine melodische Linie, indem er sie bei vielen Gelegenheiten in den Streichern verdoppelt (damit war er unter den Komponisten seiner Generation nicht allein; auch Puccini ist schuldig). Aber abgesehen vom Intermezzo sind das Orchester und die Sänger durchweg im Forte oder lauter in kraftvoller, emotionaler, singbarer Melodie Charles Jernigan/DeepL/ Foto oben Clive Barda/ Wexford Festival 2015).Charles Jernigan

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Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier.