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Der Franzose Maurice Emmanuel, der von 1862 bis 1938 lebte, ist einer der großen Unbekannten unter solch Zeitgenossen wie Debussy, Ravel, Dukas oder Roussell. Bevor es ihn zum Komponieren zog, machte er sich als Lehrer und Musikwissenschaftler einen Namen. Zu seinen Schülern gehören Messiaen und Dutilleux, zu seinen Schriften eine bedeutende Analyse von Debussys Pelléas und die monumentale Musikgeschichte Histoire de la langue musicale. Er schrieb in der Mehrzahl Kammermusik und nur sechs größer dimensionierte Werke, darunter drei Opern.
Alle beziehen sich auf antike Dramen: Amphitryon nach Plautus (1936), Prométhée enchaîné (1916-18) und Salamine, beide nach Aischylos. Diese Anfang der 20er Jahre begonnene, aber erst 1929 an der Pariser Opera uraufgeführte Tragédie lyrique nach der Tragödie Die Perser ist jetzt erstmals auf CD veröffentlicht worden, in einer attraktiven Rundfunkproduktion aus dem Jahr 1958. Hintergrund der Oper ist der Untergang der persischen Flotte in der Seeschlacht von Salamis, Thema der Krieg und seine schrecklichen Auswirkungen auf das Volk, den König Xerxes und seine Familie. Die nur gut eine Stunde dauernde Oper, die in drei nahtlos ineinander übergehende Akte unterteilt ist, besitzt Größe und dramatische Dichte. Von der stürmischen, martialischen Ouvertüre bis zum finalen Klagegesang entwickelt das Stück eine hoch artifizielle, faszinierende Spannung. Es ist das Nebeneinander von Orchesterwucht und partiell sparsamer, dennoch raffinierter Instrumentierung, von Rezitation, Parlando und expressivem Gesang, die Salamine so aufregend macht.
Die historische RTF-Aufnahme von 1958 aus den Archiv des nationalen INA (Institut Audiovisel) punktet mit stilsicheren Solisten, die alle im französischen Repertoire bewandert und deshalb idiomatische Vermittler der bei frankophilen Vokalwerken so wichtigen subtilen Ton-/Wortverschmelzung sind. Jeder von ihnen hat einen großen Auftritt: Lucien Lovano spricht den Monolog des Chorführers wunderbar klangvoll und prononciert; der Traumerzählung der Königin Atossa verleiht die Schweizerin Flore Wend mit klarem, schlankem Sopran expressive Energie; Bernard Demigny erfüllt die lange Erzählung des Boten durch seine differenzierte vokale Gestaltung mit Leben; Jean Giraudeau gibt der inneren Zerrissenheit des Xerxés mit hellem lyrischem, dabei substanzreichem Tenor markantes Profil. Großes Gewicht kommt dem teils kommentierenden, teils aktiv ins Geschehen eingreifende Chor zu: eine vielseitige Aufgabe, die der französische Rundfunkchor überlegen bewältigt. Mit Tony Aubin steht ein erfahrener Kapellmeister am Pult des mit strahlenden Blechbläsern glänzenden RTF-Orchesters, der einen starken Sinn für die Effekte der Musik hat und sie konturenscharf und mit leidenschaftlichem Zugriff dirigiert. Ein zusätzlicher Gewinn ist das zweisprachige Begleitbooklet, das sich durch einen äußerst informativen Artikel zu Komponisten und Werk auszeichnet.
Thematisch passend, weil auch in die Antike führend, ist die Orchestersuite Antoine et Cléopâtre von Emmanuels Kollegen Florent Schmitt (1870 – 1958), die schon vor einiger Zeit bei timpani erschienen ist. Das in üppigsten Klangfarben schillernde Tongemälde nach dem Drama von Shakespeare wird von Jacquer Mercier und dem famosen Orchestre national de Lorraine in allen Valeurs ausgeleuchtet und ebenso kompetent dargeboten, wie die kürzlich hier besprochene Aufnahme von Schmitts Ballett Le Petit Elfe Ferme-l’Œil durch das gleiche Team. Ergänzt wird die Suite durch die zweisätzigen Mirages: La tristesse de Pan, eine impressionistisch funkelnde Reminiszenz an Debussys Hirtengott und La tragique chevauchée nach Byrons Mazeppa, das mit stampfenden Rhythmen plastisch in Musik umgesetzte Bild einer daherstürmenden Reiterstaffel. Karin Coper
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Maurice Emmanuel: Salamine; mit Flore Wend (Atossa), Bernard Demigny (le Messager), Jean Giraudeau (Xerxés), Joseph Peyron (Un dignitaire de la Cour) André Vessières (L’ombre de Darius), Lucien Lovano (le Coryphée); Orchestre radio-symphonique et Choeurs (René Alix) de la RTF; Leitung: Tony Aubin; solstice SOCD 301
Florent Schmitt: Antoine et Cléopâtre, Mirages; Orchestre national de Lorraine, Leitung Jacques Mercier; timpani, 1C1133
Abbildung oben: Wilhelm von Kaulbach, La bataille de Salamine, 1868, Neue Pinakothek, Munich
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