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Der hundertfünfzigste Todestag von Saverio Mercadante (getauft 17. September 1795 in Altamura bei Bari; † 17. Dezember 1870 in Neapel) wird von der Musikwissenschaft zum Anlass genommen, in einem groß angelegten Kongress in Neapel, Wien, Altamura und Mailand der musikhistorischen Bedeutung dieses Komponisten nachzuspüren und eine Bilanz der bisherige Forschung zu ziehen. (M. W.) Der renommierte Musikwissenschaftler Michael Wittmann war so liebenswürdig, uns zu diesem Anlass einen Artikel zu schreiben.
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M. W.: Die Opernhäuser haben das Ereignis (fast möchte man sagen natürlich) verschlafen. Eine Ausnahme bilden das Theater für Niedersachsen in Hildesheim, das Mercadantes Schillervertonung I briganti (coronabedingt mit reduziertem Orchester, aber szenisch und ungekürzt) auf die Bühne bringt. Davon um die Premiere im September herum weiteres.
Da ist noch Die Oper im Knopfloch, Zürich, die eine moderne Erstaufführung von Mercadantes Amleto, am 22. Dezember 1822 an der Mailänder Scala uraufgeführten melodrama tragico nach einem Libretto von Felice Romani, für 2021 angekündigt hat.
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Zum Amleto: Mercadante hatte 1821 mit Elisa e Claudio ebenfalls an der Scala seinen internationalen Durchbruch erlebt und in der Folgezeit für alle wichtigen Theater in Oberitalien geschrieben. Zudem hatte er bereits den Vertrag in der Tasche, der ihn ab 1823 zum Nachfolger Rossinis als Hauskomponist am San Carlo in Neapel machen sollte. Vorher standen für den Herbst 1822 gleich zwei neue Opern für Mailand an: die recht erfolgreiche Opera semiseria Adele ed Emerico (21. September 1822) und eben der Amleto, am 26. Dezember 1822.
Der Theateralmanach der Scala stellt dazu kurz und bündig fest: Mercadante si presenta per la terza volta su queste scene; ma pare che egli vi sia venuto per dimettere quell’alloro che si era procacciato coll‘Elisa e Claudio, che sfrodò poi coll‚Adele ed Emerico e che cadde intieramente coll‘ Amleto, il quale dopo poche sere venne ridotta ad un solo atto, e supplito da una farsa, fintantochè altra Opera di ripiego poté esser posta sulle scene. (Mercadante präsentiert sich zum dritten Mal auf diesen Szenen, aber es scheint so, als sei er gekommen, um den Lorbeer zurückzugeben, den er sich mit Elisa und Claudio verschafft hatte, den er dann mit Adele ed Emerico gemindert hatte und der mit Amelto schließlich fiel, der nach wenigen Abenden auf einen einzigen Akt reduziert wurde und durch ene Farsa ersetzt wurde, bis schließlich eine andere Oper auf die Bühne gebracht werden konnte.)
Freilich kam dieses Fiasco für Mercadante nicht ganz unerwartet. Bereits am 4. Dezember schrieb er in einem Brief an Barbaja:: …Io sono ne’guai, i più grandi, mentre la Belloc non è contenta della sua parte e minacca di far cadere l’opera, ed io son già preparato al più gran fiasco. (Ich befinde mich in Schwierigkeiten, den allergößten, während La Belloc mit ihrer Rolle nicht zufrieden ist und droht, die Oper fallen zu lassen, und ich bin schon auf das größte Fiasko vorbereitet.) Dass sich hinter diesen dürren Worten ein handfester Konflikt verbirgt, ergibt sich schließlich aus einem Dokument vom 30. November 1822, aus dem hervorgeht, dass Teresa Belloc, der als Primadonna die Rolle von Hamlets Mutter Geltrude zugedacht war, offenbar versucht hatte, eine Änderung ihrer Rolle zu erzwingen, indem sie bei der Zensurbehörde angeblich mit ihrer Partie verbundene eccezioni dal lato politico angezeigt hatte. Diese Anzeige wurde durch die Polizeibehörden nicht nur zurückgewiesen, sondern die Sängerin eigens dazu aufgefordert, sich mit aller Kraft für den Erfolg der Oper einzusetzen. Der eigentliche Grund für diese Theater-Intrige dürfte indessen nicht in politischer Besorgnis seitens der Belloc zu suchen sein, sondern in dem Umstand, dass die für die Oper tragende Rolle des Amleto wiederum Isabella Fabbrica zugedacht war, die damit alle Chancen hatte, der Primadonna Belloc den Rang abzulaufen, so dass diese am Ende ihre Partie womöglich doch nur mit halber Kraft sang.
Eine etwas andere Erklärung für den Misserfolg der Oper bietet eine handschriftliche Anmerkung, die sich auf dem in der Bibliotheca di Santa Cecilia in Rom aufbewahrten Libretto der Uraufführung findet. Der unbekannte Schreiber notiert: Tutti fanno bene la loro parte, ma la nessuna novità e le frequenti rimem¬branze della Musica già sentita dello stesso Maestro fa si che l’effetto è il più disgraziato, quindi Fiasco. (Alle machen ihre Rolle gut, aber nichts Neues und die ständigen Erinnerungen an bereits gehörte Musik eben diesen Maestros führen dazu, dass der Effekt ein sehr undankbarer ist, also ein Fiasko.) In jedem Falle reichte das spektakuläre Desaster aus, um jegliche Chance für eine Folgeinszenierung an einem anderen Theater zu verhindern und bezeichnenderweie gehört Amleto auch zu den ganz wenigen Opern, von denen keine Einzelnummern im Druck erschienen sind.
Trotz dieser Nicht-Rezeption ist Mercadantes Amleto natürlich von beachtlichem musikhistorischen Interesse. Und dies gerade weil er mit Shakespeares Vorlage nur sehr wenig zu tun hat, ja man kann sogar bezweifeln, ob Romani Shakespeares Theaterstück überhaupt gekannt hat. Tatsächlich stellt er in seinem weitschweifigen Vorwort fest: É questo soggetto del presente melodramma ordito sulle tracce di Sackespeare [sic!] e del suo imitatore Ducis. É noto abbastanza che Amleto é l’Oreste, Claudio l’Egisto e Geltrude la Clitennestra; egli e perciò che il poeta ha modellato i caratteri di questi tre personaggi su quelli dei Greci. Lui è sembrato in tal guisa di renderli, se non più interessanti, almeno più addattati alle nostre scene di quello che per avventura non sieno ne l’originale inglese un po‘ troppo fantastico, nella copia del Ducis, a creder suo, troppo fiacco e sbiadata. (Und dieser Gegenstand des jetzigen, auf den Spuren Shakespeares wandelnden Melodramas und seines Imitators Ducis. Es ist ziemlich bekannt, dass Hamlet Orest ist, Claudio Ägisth und Gertrude Klytämnestra ist, der Dichter hat die Personen nach dem griechischen Vorbild modelliert. Hält sie auch für italienische Bühne geeigneter, als es die englischen Charaktere sind. hält er für zu phantastisch, in der Kopie von Duciszu matt und zu blass.) Indem er nun aber in seinem Libretto vor allem den im Hamlet-Stoff angelegten Mutter-Sohn-Konflikt heranzieht, ergibt sich nicht nur eine Parallele zu Orest-Klytemnästra, sondern auch zum Semiramide-Stoff nach Voltaire, den Rossini/Rossi praktisch zeitgleich für das Teatro La Fenice (UA 3. Februar 1823) bearbeiteten.
Ein Vergleich beider Opern (Amleto – Semiramide)zeigt denn auch, dass sich in beiden Werken eine ganze Reihe von dramaturgisch identischen Situationen finden, die – beinahe überflüssig zu sagen – allesamt von Rossini überzeugender bewältigt wurden und die somit vor allem erkennen lassen, welche Mittel Mercadante damals noch nicht zu Gebote standen. Als Beispiel sei auf das Finale des 1. Aktes verwiesen, der in beiden Opern durch die Geisterscheinung des ermordeten Vaters bestimmt wird. Während jedoch Rossini das szenische Moment als solches hervorkehrt (und damit auf seine Pariser Opern vorausweist) nutzt Mercadante die Situation vor allem zu einem fünfstimmigen Largo a capella, das als Stück von mustergültiger kompositorischer Arbeit doch nur ein typisch neapolitanischer Kunstgriff ist, der sich bis auf Niccolò Jommelli zurückführen läßt. Übrigens sind Adele und Amleto die ersten beiden Libretti, die Romani für Mercadante geschrieben hat. Der hatte sich den ausdrücklich gewünscht. Wenn man den Amleto mit der Semiramide vergleicht, wird aber deutlich, warum Rossi die modernere Librettist war. Romani gewinnt das große Finale des 1. Aktes aus der Geistererscheinung des Vaters. Rossi stellt dies gleich an den Anfang. Das ist innovativ und zeigt sehr schön, dass Rossi wirklich von der Bühne und dem Bühneneffekt her dachte. Romani hingegen war ein Literat, der sich nicht darum kümmerte, wie etwas auf der Bühne wirkt. Dasselbe findet man mit Blick auf die Verteilung der Rollen: bei Romani ist das genau abgezirkelt. S und MS erhalten dieselbe Anzahl von Solonummern, dazu zwei Duette, zwei Terzette und ein Quintett. In der Semiramide spielt diese Arithmetik keine Rolle und Rossi konzentriert sich auf wenige, dafür aber größere Nummern. (Die Idreno-Arien in der Semiramide werden ja oft auch weggelassen). Aber Rossini hatte da eben schon das „Standing“, um so etwas gegen die Sänger durchsetzen zu können.
Eine Einspielung dieses Amleto-Finales ist auf einer CD von Opera Rara zu hören und diese Einspielung verdeutlicht schlagartig das Problem des jungen Mercadante: Durch Nicolo Zingarelli am Konservatorium von Neapel ausgebildet, war er ganz auf die neapolitanische Tradition festgelegt worden, die er erneuern und gegen Rossini ins Feld führen sollte. Mit dem Fiasko des Amleto wurde die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens erstmals deutlich; noch mehr mit dem noch größeren Fiasko, das Mercadantes Dorlice 1824 in Wien machte. Es spricht für Mercadante, daß er sich nach diesen beiden negativen Erlebnissen einer Art kompositorischen Selbstkritik unterzog und ab 1825 sich dezidiert mit den Errungenschaften von Rossinis experimentellen neapolitanischen Opern auseinandersetzte. Michael Wittmann
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Und noch ein Postscript: Saverio Mercadantes frühe Opern sind sicherlich nicht die dringlichsten Desiderate einer modernen Wiederaufführung, auch wenn man diese, wie etwa die Teileinspielung von Maria Stuarda mit grossem Vergnüngen hören kann. Auch der Ausschnitt aus Amleto vermag die Neugier nach mehr zu wecken.
Das Zürcher Unternehmen Die Oper im Knopfloch wirbt für diese Aufführung als „Psycho-Kammerspiel nach Shakespeare“. Vorgesehen sind fünf (!!!) Sängerinnen (!!!) und eine instrumentale Begleitung aus Flöte, Klarinette, Horn und Violoncello. Wenn man das positiv sehen will, könnte man den lateinischen Spruch zitieren: Ut desint vires …. Wenn man weniger gnädig ist, muss man die Frage stellen: Cui bono? Oder auch: Warum? Mercadante jedenfalls dürfte man damit keinen Gefallen tun. Bei der Uraufführung in Mailand erlebte sie ein komplettes Fiasco. Sie gehört zu den wenigen Opern Mercadantes, von denen nicht eine einzige Nummer im Druck erschien. Und sie war verantwortlich dafür, dass Mercadante Zeit seines Lebens davon überzeugt blieb, dass eine Opernpremiere am 2. Weihnachtsfeiertag Unglück bringen müsse. Und dass, obwohl die Premiere in Mailand über die allerersten Sänger und das volle Instrumentarium der Möglichkeiten (inclusive Banda militare sul palco) dieses Hauses verfügte. Der Werbe-Gag eines „Psycho-Kammerspieles nach Shakespeare“ führt in die Irre, da die Handlung eben nicht auf Shakespeare zurückgeht und sie Romani explizit für die italienische Opernbühne als ungeeignet darstellt. Michael Wittmann
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Großen Dank an den renommierten Autor, der natürlich operalounge.de-Lesern wie auch der Musikwelt namentlich der Belcanto-Periode als hochgeschätzter Musikwissenschaftler und Fachmann gilt. Er fügte seinem Artikel – exklusiv für, uns – eine ausführliche Aufstellung der musikalischen Nummern der Oper Amleto von Mercadante bei, die den Rahmen unserer Berichterstattung sprengen würde, die wir aber auf Wunsch per mail an Interessenten verschicken. Dank auch an Ingrid Wanja, die wieder für uns die italienischen Zitate Michael Wittmanns übersetzte: Das wird viele Leser freuen. Wir stellen ja eh schon manche Geduld auf die Probe wenn wir vieles in den west-europäischen Kultursprachen bringen (Abbildung oben:“Hamlet“, Gemälde von Füssli/ Tate Gallery London/ Wikipedia). G. H.
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.