Georges Prêtre

 

Der französische Dirigent George Prêtre starb (am 4. Januar in Navès; geboren am 14. August 1924 im nordfranzösischen Waziers) mit 92 Jahren. Mit ihm geht ein Zeitalter zu Ende. Das sagt sich so und sagt sich sicher oft so. Aber Prêtre war der letzte Bannerträger einer langen Operntradition, namentlich der französischen. Er hat bei der inzwischen von Warner aufgekauften EMI France unendlich viele Aufnahme des Repertoires seines Heimatlandes eingespielt, war Partner für Maria Callas in ihren späten Aufnahmen (darunter auch die diskutable Carmen und ihre Solo-Arien), war der Favorit eben der Callas und Poulencs, der Dirigent zahlloser Opern und symphonischen Werke im französischen Repertoire. Er dirigierte an allen wichtigen Häusern der Welt, hatte ein unendlich breites Repertoire und stand für Solides, auch Überdurchschnittliches. Wie Wikipedia schreibt war Prêtre Generalmusikdirektor der Pariser Oper und seit 1956 in der Opéra-Comique in Paris. 1966 dirigierte er die Wiederöffnung der New Yorker Metropolitan Opera. Von 1986 bis 1991 war er „Erster Gastdirigent“ der Wiener Symphoniker. Er leitete regelmäßig die großen Orchester Europas und Amerikas, darunter die Berliner Philharmoniker (Waldbühnen-Konzert 1992) und die Wiener Philharmoniker. In jungen Jahren trat er auch unter dem Pseudonym Georges Dhérain auf. 2008 dirigierte er – mit 83 Jahren bis dahin der älteste Dirigent – das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker; 2010 dirigierte er es zum zweiten Mal. 2005 und 2009 leitete er das Neujahrskonzert am Teatro La Fenice in Venedig (Foto oben bach-cantatas.com/EMI).

 

Auf der website des BR findet sich eine von allen veröffentlichten deutschsprachigen Nachrufen am persönlichst geschriebene Einschätzung: Als „Vulkan am Dirigentenpult“ oder „Maestro 100.000 Volt“ wurde er oft tituliert. Und lange, sehr lange, schien es, als könnten die Jahre seinem sprühenden Temperament nichts anhaben. Als er 2008 das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker leitete, war er der bisher älteste Dirigent. Und er bewies er laut Philharmoniker-Vorstand Clemens Hellsberg: „Das Alter ist nur eine Zahl im Reisepass. Sie werden kaum einen jugendlicheren Künstler in der internationalen Musikszene finden als Georges Prêtre.“ Zu diesem Zeitpunkt war er 83 und riss in Wien Publikum wie Orchester derart mit, dass er 2010 erneut eingeladen wurde. (…) Die Quelle seiner unerschöpflich wirkenden Kraft sah der Grandseigneur der französischen Dirigierkunst in seinem Glauben, seiner Familie und im Sport. Besonders aber in seiner unersättlichen Neugier auf Musik, die ihm keineswegs in die Wiege gelegt war: 1924 kam Georges Prêtre im nordfranzösischen Waziers zur Welt. Sein Vater war Schuster und wenig begeistert von Georges’ musischen Ambitionen, duldete aber den Konservatoriumsbesuch: Über die Fächer Trompete, Klavier und Komposition gelangte Prêtre zur Orchesterleitung. Sein Debüt an der Oper Marseille 1946 hinterließ einen bleibenden Eindruck – auch bei der bildhübschen Tochter des Intendanten, die Prêtre bald darauf heiratete. Bald schon ging es an die Pariser Opéra und von dort an die Metropolitan Opera, ans Royal Opera House Covent Garden, an die Mailänder Scala und die Wiener Staatsoper. (…)Und das, ohne die Sinfonik zu vernachlässigen: Seinen Lieblingsorchestern wie den Wiener Symphonikern und Philharmonikern, dem Santa-Cecilia-Orchester in Rom, dem Orchestre de Paris oder dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart hielt Prêtre jahrzehntelang die Treue – und umgekehrt: Wer einmal mit ihm gearbeitet hatte, wünschte ihn sich immer wieder ans Pult zurück, denn bei aller Bestimmtheit und Autorität war stets klar, dass es ihm um den Dienst an der Musik ging. Prêtre hasste den Begriff der Tradition, wenn er Gewohnheit, Bequemlichkeit und Schlamperei bemäntelte. Unter den vielen künstlerischen Weggefährten, die ihn während seiner langen Karriere begleiteten, erlangten zwei besondere Bedeutung: Maria Callas, die den Maestro 1961 kennenlernte und sofort zu ihrem Lieblingsdirigenten kürte. Prêtre stand auch beim letzten Bühnenauftritt der Diva 1965 in London am Pult und blieb ihr bis zu ihrem Tod freundschaftlich verbunden.

Genauso wie dem Komponisten Francis Poulenc: Prêtre machte seine Bekanntschaft 1959, als er an der Pariser Opéra comique dessen Oper „La voix humaine“ zur Uraufführung brachte. „Gepriesen sei der Tag, an dem Georges Prêtre das Licht der Welt erblickte – mein bevorzugter Dirigent!“: Diese Worte standen auf einem Billett, das Francis Poulenc dem Maestro am Tag nach der Premiere zusandte. Die Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit: Prêtre entwickelte sich bald zum Vorkämpfer von Poulencs Schaffen und spielte bis auf wenige Ausnahmen sein gesamtes Orchester- und Chorwerk auf Schallplatte ein. Nicht als „Dirigenten“ bezeichnete sich Prêtre, sondern als „Interpreten“, denn zur Kunst, eine Partitur zum Leben zu erwecken, gehörte für ihn unendlich viel mehr als nur den Takt zu schlagen. Diese persönliche Authentizität spürte auch das Publikum, wann immer der „Maestro con brio“ am Pult stand; denn egal, ob er Johann Strauß oder Richard Strauss, Bellini oder Bizet, Puccini oder Poulenc dirigierte – Georges Prêtre tat es immer genauso, wie er es fühlte.(Quelle Alexandra-Maria Dielitz/ BR)

 

 Georges Prêtre war Ehrendirigent der Wiener Symphoniker, und auf deren website findet sich – noch aus seinen Lebzeiten – die folgende Hommage: Dass es sich bei Prêtre-Konzerten nicht um „herkömmliche“ Konzerte handelt, steht außer Zweifel. Als „Dirigent“ hat sich der 1924 in Waziers geborene Dirigent selbst – und darin stimmen ihm die Orchestermusiker uneingeschränkt zu – nie verstanden: eher als „Interprêtre“ und durchaus im Sinne des französischen Vokabels als ekstatischer Musik-Priester und Vermittler göttlichen Odems, der den großen Werken entströmt. Vor derartigen Größen verstummt hierzulande jede Kritik, es sei denn, sie äußern sich kritisch über österreichische Verhältnisse, und da dies Georges Prêtre schon deshalb nie getan hat, weil eben Musik seine Muttersprache ist, übt sich die Wiener Kritik, dankbar, ihrer verbrieften Verpflichtung zu distanzierter Skepsis enthoben zu sein, bei Prêtre-Konzerten in entrückter Selbstvergessenheit. Wie auf mittelalterlichen Stifterbildern sieht man dann im Konzertsaal allenthalben kleine Kritikerfiguren mit Rosenkränzen statt Partituren in Händen, in Bet- oder Adorationsstühlen demütig vor ihrem großen Heiligen kniend, dem sie tags darauf ihre Panegyriken als mildtätige Stiftungen in den Feuilleton-Opferstöcken darbringen und aus deren Wunder-vollen Superlativen auch ein wenig Glanz auf das Orchester fällt.

Berufsbedingt sehen die Musiker aus der verzerrenden Praxis-Perspektive die Dinge nüchterner, schließlich müssen sie das Konzert ja spielen, sind sich aber in der Bewunderung der geistigen und physischen Leistung des 92-jährigen Maître einig, der vor nunmehr 30 Jahren die Stelle des Ersten Gastdirigenten der Wiener Symphoniker übernahm. Orchestermusiker seines Alters sind beinahe ebenso lange schon in Pension, und selbst wenn man konzediert, dass Dirigieren in der Kombination aus angewandter Gymnastik, sublimierter Machtausübung und öffentlichem Ruhm ideale Voraussetzungen für die Bewahrung von Vitalität und Lebensenergie bietet, sind und waren dennoch vielen bedeutenden Dirigenten physische Grenzen gesetzt, die für Georges Prêtre nicht zu gelten scheinen. Seine geistige und körperliche Elastizität überträgt sich geradezu magisch auf die Orchestermusiker, spornt sie aufs Äußerste an und motiviert zu Höchstleistungen, die sich auch der extremen und bis zur Erschöpfung führenden gesteigerten Anspannung verdanken, welche die sachdienliche Dechiffrierung von Prêtres kryptischer, um nicht zu sagen orakelhafter Form der Zeichengebung erfordert.

Es ist, um Freud’sche Terminologie zu verwenden, die permanente Durchbrechung des Reizschutzes, welche – ganz im Sinne von Walter Benjamins Ausführungen über Baudelaire – dem Musizieren Prêtres seinen schockartigen und damit intensiv erlebnishaltigen Charakter verleiht: „Je größer der Anteil des Chockmoments an den einzelnen Eindrücken ist, […] desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses“; und „desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein.“ Diese illuminierende Erkenntnis Benjamins stellt für uns die künstlerische Eigenart Prêtres in die große französische Tradition, als Paris die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ war, erklärt aber umgekehrt auch den tatsächlich bemerkenswerten Sachverhalt, dass selbst bei von ihm oftmals interpretierten Werken keine Prêtre’sche „Interpretationstradition“ entstehen kann. Und wo sich keine erfahrungsgesättigte Anschauung bildet, regiert das Suchtverhalten, sich unentwegt aufs Neue den faszinierenden, unerwartet hereinbrechenden Schocks auszusetzen.

Vielleicht liegt ein Geheimnis seines Erfolgs im weisen Entschluss, Zeiten zurückgezogener Muße mit einem klar umgrenzten „Repertoire ohne Repertoire“ zu verbinden: mit einem intensiv studierten Werkkanon ohne Routine-Gefahr. (Quelle; Wiener Symphoniker)