Eine schöne Idee für lange Zugfahrten: Was fällt uns zu Städtenamen ein. Im Eltern-Kind-Abteil ist damit für Abwechslung gesorgt. Bei Irrelohe im Pfalztheater Kaiserslautern, eigentlich Irrenlohe, ist das Ergebnis klar. Eine Geschichte über die „irre Lohe“ kann nur einen Schauerroman, ein Grusical, einen Schocker ergeben. Franz Schreker (Foto oben, Wiklipedia) erzählte, „Ich fuhr – es ist noch nicht lange her – von Dresden nach Nürnberg. Meine Gedanken – ich hatte eben die Partitur des Schatzgräbers vollendet – weilten sehnsüchtig bei neuen dichterischen Plänen. Der Zug hielt. Das schien es mir, als riefe der Schaffner den Namen Irrelohe. Ganz deutlich. Und ich blickte hinaus und buchstabierte wahrhaftig am Stationsgebäude den Namen einer Ortschaft Irrelohe. Da war es mit klar, dass dieser Name, über dessen möglicherweise höchst prosaische Entstehung ich nicht weiter nachfragen wollte, der Keim einer Dichtung in sich trage. Und so war es. Die Oper, an der ich eben arbeite, trägt ihn; das Buch war in drei Tagen vollendet: Irrelohe – Flammen aus einem Wahn!“ Eine nette Geschichte, die bei keiner Betrachtung von Schrekers siebter, 1924 in Köln unter Otto Klemperer uraufgeführter Oper fehlen darf. Die im 18. Jahrhundert spielende Geschichte um Schloss und Dorf Irrelohe, die sich Schreker als sein eigener Librettist erdachte, ist eine Variation der im 18. Jahrhundert aufkommenden britischen Schauerromane, der Gothic Novel, ein bisschen schwarze Romantik, Edgar Allan Poe & Co und Tanz der Vampire, auch ein bisschen Psychoanalyse und Sexualphilosophie der vorletzten Jahrhundertwende.
Das Pfalztheater Kaiserslautern realisierte, nach dem außerordentlichen Friedenstag zu Beginn der Spielzeit, eine fesselnde Aufführung. Eine fast leere Bühne. Wo sonst das Orchester sitzt, im hoch gefahrenen Orchestergraben, türmen sich Müllsäcke, das Orchester spielt auf der hinteren Bühnenhälfte, halb versenkt, fährt erst im dritten Akt, wenn das Schloss in Flammen steht und Schrekers Musik sehrende Glut annimmt, nach oben. Das ergibt weite Wege aus dem Bühnenhintergrund, wo der Chor und die Solisten auftauchen und das Orchesterquadrat umrunden müssen, auch etwas Lauerndes und Unheimliches, ziemlich schnell entsteht die typische Gruselatmosphäre: alle wissen von einem Geheimnis, das sich dem Zuschauer erst langsam enthüllt. Ein moderner zeitloser Thriller, aufgeladen und ausgeleuchtet durch die Lichtkegel, die die Akteure aufeinander richten. Holger Müller-Brandes und sein Bühnenbildner Thomas Dörfler haben einen schlichten und auch klanglich überraschend gut funktionierenden Raum geschaffen, in dem die Geschichte, leicht gekürzt, in gut 2 1/2 Stunden zu spannendem Musiktheater wird. Aus dem Orchester steigt ein Spieler mit Geigenkasten. Es ist, wie sich bald zeigt, Christobald, die Figur des Spielmanns, die in kaum einer der Opern Schrekers fehlt. Auch die anderen Musikanten, die gemeinsam mit ihm Feuer legen, seit ein Verbrechen über dem Ort liegt, sind Orchestermusiker. Zunächst tapst die alte Lola nach vorn, erzählt, „einmal war ich schön, einmal war ich jung“, immer wiederkehrend, wie Azucena, was Katja Boorst mit ruhig wohlig fließendem Alt eindrucksvoll vermittelt, ist doch die Geschichte der Halbbrüder, Graf Heinrich oben auf der Burg und Lolas Sohn Peter, der in die Förstertöchter Eva verliebt ist, fast wie die im Trovatore. Mädchen umkreisen – wie Models auf einem Laufsteg mit gefährlichen High Heels und monströsen Hutkreationen – die vordere Spielfläche, mit verschmierte Gesichten, wie Halbtote. Ein bisschen David Lynch, ein bisschen Edgar Wallace. Schwarz weiß.
Auf dem Schloss laboriert Graf Heinrich mit Schaufensterpuppen, schraubt lieber an deren Gliedern herum als sich auf Eva zu stürzen, die sich ihm anbietet. Adelheid Fink und Heiko Börner sind als Eva und Heinrich merklich gefordert von den strapaziösen Partien, Finks harscher Sopran klingt denn doch oft in den Höhen schrill und in der Mittellage flach, wirft sich aber mit unbedingter Hingabe in ihre Aufgabe, die alle stimmlichen Scharten vergessen macht, ebenso wie Börner, dessen lyrisch federnder Tenor manchmal in den Orchesterfluten untergeht, doch am Schluss noch über einen festen Klang verfügt; aber im Tristan-Zitat, dem Duett am Ende des 2. Aktes, klingen beide über die Maßen verzagt. Wieland Satter singt den aus einer Vergewaltigung hervorgegangenen Peter mit roh scheinendem lauterem Bariton, der im dritte Akt charaktervolle Farben zeigt. Gelungen Uwe Eikötters Christobald, überragend die Leistung Uwe Sanders (7. März 2015), der sich über die Jahre zu einem Spezialisten für die Oper der 1920er Jahre entwickelte, und diese vor allem in den orchestralen Zwischenspielen spätromantisch und filmmusikhaft wuchernden Klänge mit Leidenschaft und Gespür zum Klingen brachte; manches ist in Irrelohe erstaunlich konventionell, etwa das mühsame reziativische Singen, manches melodiös verführerisch, wie die Passagen, die aus der kurz zuvor uraufgeführten Frau ohne Schatten entliehen sein könnten.
Rolf Fath
Foto oben: Szene aus Schrekers Irrelohe/Foto Stephan Walzl/Pfalztheater