Unvergessen sind mir hinreißende Nachmittage im Hildesheimer Stadttheater. Es waren Sonntags-Matinée-Vorstellungen, sehr viel weiße Haare im gut gefüllten Saal. Und es gab von Yvain Pas sur la bouche, entzückend inszeniert und schmissig präsentiert – eine reine Freude. Gleiches erinnere ich von einer ebenso vergnüglichen Aufführung ebendort: Viva la mamma, köstlich in der Titelpartie der Mamma Agatha war der pralle Raimund Herinckx, kribbelig vor Vergnügen die Stimmung. Das war das Verdienst von Pierre Léon, dem damaligen Intendanten des kleinen Hauses, der alle Möglichkeiten seines Theaters ausschöpfte und uns wirklich unvergessliche Momente bereitete. Dass ich sie nach mehr als 25 Jahren noch so lebhaft erinnere spricht ja für sich und ihn.
Nun ist Pierre Léon (geboren 1924) am 14. Februar 2016 im Alter von 92 an seinem Alterswohnsitz Bonn gestorben. Mich hat die Nachricht von seinem Tod angerührt, denn in Erinnerung an jene Aufführungen in Hildesheim, eingedenk vieler guter Berichte aus seiner Zeit als Intendant ebendort und später in Eisenach schien er mir der ideale Intendant für das Theater der wirklich guten, qualitätsvollen Unterhaltung zu sein – eine absolute Seltenheit heute und auch schon damals nicht wirklich üblich. Er verwechselte nie seinen Theaterauftrag mit eigener Eitelkeit, sorgte sich um seine Ensemble und um das Entertainment seiner Zuschauer. Unterhaltung im besten Sinne und mit den bestmöglichen Mitteln eben.
Im sonst so randvollen Internet findet sich kaum etwas zu Pierre Léon, was vielleicht auch seine Bescheidenheit und Introvertiertheit als Mensch widerspiegelt. Und deshalb gibt es jetzt einen etwas ausführlicheren Exkurs zu seinen Daten. Geboren wurde er am 8. Januar in Brüssel, nahm von 1941 bis 1945 in der Royal British Navy am Krieg teil. 1947 leistete er Sozialarbeit im Belgisch-Kongo, studierte von 1948 bis 1952 Jura in Brüssel und war Teil der belgischen Europa-Bewegung: 1949 bereits wurde er der Sekretär von Paul Henri Spaak. Nach einem Paris-Aufenthalt 1953 gründete er in Brüssel die Galerie Le Miroir und ging darauf von 1955 bis 1957 als Regieassisten zu K. H. Stroux ans Schauspielhaus Düsseldorf, 1958 in der gleichen Position zu Hans Schalla ans Schauspielhaus Bochum, wo er erste eigene Inszenierungen bekam. Die Jahre 1960/61 führten ihn zum Studium an das Institute of Advanced Studies in New York. Franz Peter Wirth holte ihn als Regieassistenten zum Bavaria Fernsehen München. 1963 – 1966 arbeitete er in gleicher Position in Essen mit Jean Louis Barrault. Es folgten Inszenierungen in Berlin, Bochum, Hannover, Hildesheim, Kassel, Koblenz und Frankfurt. 1966 bis 1976 war er Oberspielleiter für Oper und Schauspiel unter Karl Pempelfort und Joachim Heyse in Bonn. Gleichzeitig gab es Gastspielinszenierungen in Hannover, Zürich, Gelsenkirchen, Essen. 1971 erhielt er den begehrten Prix Plantin der belgischen Regierung und der Stadt Antwerpen. 1976 wurde er zum Operndirektor der Vereinigten Bühnen Krefeld-Mönchengladbach ernannt. Von 1977 bis 1990 war er Intendant am Stadttheater Hildesheim. 1982 bekam er die Medaille eines Ritters des Leopold-Ordens (Belgien). Es folgten Gastinszenierungen in Krefeld, Wuppertal, Hannover, Hamburg, Salzburg, Oldenburg. 1989 erhielt er das deutsche Verdienstkreuz am Bande des Landes Niedersachsen. Von 1990 bis 1993 war er stellvertretender Intendant des Altonaer Theaters. 1992 erfolgte die Ernennung zum Offizier des Belgischen Kronenordens. Und schließlich war er von 1993 bis 1994 Intendant des Stadttheaters Eisenach, wo ihn unsere langjährige Bonner Korrespondentin und Rossini-Freundin Julia Poser anlässlich seiner Inszenierung der Donizettischen Maria Stuart besuchte und dort mit ihm das nachfolgende Gespräch führte, das wir aus diesem historischen Anlass hier noch einmal bringen. Danke Julia!
Mit Pierre Léon verlieren Deutschland, Belgien, Europa und die Welt der Oper einen überzeugten, gebildeten und klugen Europäer im besten und breitesten Sinne; einen dem Theater zutiefst Verbundenen und einen, der sein Publikum respektierte und ihm Wohl wollte. Wie selten ist das! Danke Pierre Léon! G. H.
Nun also Julia Posers Besuch in Eisenach: Zwischen Leitern, Farbkübeln und Abdeckplanen bahnt man sich vorsichtig den Weg zum Zimmer des Intendanten. Auch das Verwaltungsgebäude wird renoviert, nachdem das Theater schräg gegenüber bereits in frischem Glanz erstrahlt. Selbst in Hildesheim, wo Léon von 1977 bis 1990 Intendant am Stadttheater war, begann seine Tätigkeit mit einer Verschönerung des dortigen Theaters In dem großen, hellen Raum kommt mir Pierre Leon, dem niemand seine 70 Jahre ansehen würde, freundlich lächelnd entgegen. Zuerst sprechen wir über die zehn Jahre (1966 – 1976), in denen Léon Oberspielleiter für Oper und Schauspiel am Stadttheater Bonn unter den Intendanten Pempelfort und Heyse war. Ich erinnere noch eine Ariadne auf Naxos-Aufführung, die er inszeniert hatte und in der er für einen erkrankten Schauspieler als Haushofmeister eingesprungen war.
Weshalb hatten Sie sich die schwere Aufgabe gestellt, jetzt ein verwaistes Theater in Thüringen zu übernehmen? Ich habe mit dem Ehepaar Fitze vom Altonaer Theater in Hamburg nicht mehr zusammenarbeiten können und wollte weg. Zuerst bot sich Rostock an, aber vieles sprach dagegen. Dann kamen Vertreter der Kulturverwaltung Eisenach zu mir. Wie an vielen Theatern musste auch dort gespart werden – Sie kennen ja die Lage in den neuen Bundesländern -, und so wurde von Parteipolitikern der Stadtverwaltung das Schauspiel kurzerhand „wegrationalisiert“. Ein furchtbares Wort! Eine schreckliche Lage für die Künstler! Mein Vorgänger Jürgen Fabritius, über dessen Kopf hinweg man die Rationalisierung verfügt hatte, kündigte darauf seinen Vertrag, an den er sich nicht mehr gebunden fühlte. Eisenach war also verwaist, und die Eisenacher suchten nach einem neuen Intendanten, einer Integrationsfigur, die sie in mir, dem Belgier, gefunden zu haben glaubten.
Im März 1993 fuhr ich dann zum ersten Mal nach Eisenach. Es war schreckliches Wetter, alles grau und schmutzig. Die gekündigten Schauspieler streikten. Es war ganz furchtbar, und ich sagte: „Danke, nein“. Aber die Eisenacher ließen nicht locker und kamen noch einmal nach Hamburg. Auf ihre Bitten fuhr ich wieder nach Eisenach. Ich bat meinen alten Freund und langjährigen Mitarbeiter, den Bühnenbildner Ottowerner Meyer, mich zu begleiten. Wir sahen Figaros Hochzeit, und ich war begeistert von Monika Dehler als Cherubino. Auch Marianne Memm war eine großartige Marzelline. Wenn Sie wollen, ist Monika Dehler schuld, dass ich hier zugesagt habe. Ich wusste, dass diese junge Sängerin eine vorzügliche Cenerentola sein würde. Glücklicherweise konnte ich Ottowerner Meyer gewinnen, mir für fünf Aufführungen pro Spielzeit als Ausstatter zur Seite zu stehen. Eine große Hilfe für mich! Ich möchte ganz klar etwas sagen: Ich mache Theater für das Publikum. Das Publikum hat ein Recht auf gutes Theater. Ich stelle jetzt gerade den Spielplan für die nächste Saison auf und werde gute Leute dafür engagieren.
Es gibt hier aber auch eine Menge Komplikationen. Eisenach muss zum Beispiel mit Rudolstadt fusionieren. Die Bühnenmaße stimmen nicht überein, und statt Ersparnis werden durch Änderungen nur noch höhere Kosten entstehen, fürchte ich. Auch die hiesigen Straßenverhältnisse erschweren die Verbindungen. Kooperation ja. Warum nicht? Aber eine Fusion?
Hoffen wir das Beste. Dann gibt es da noch das Problem der Musiker. Rudolstadt/Saalfeld hatte einhundert Orchestermusiker, die auf 39 Mann „rationalisiert“ wurden. Wir in Eisenach hatten 55, und vier davon wurden weg rationalisiert. Jetzt bekomme ich aus Rudolstadt fünf „ausgeliehen“. Das ist ein Quell ständiger Reibereien zwischen beiden Orchestern. Mein holländischer Generalmusikdirektor Harke de Roos ist ein großer Verehrer von Eugen d’Albert. Er wünschte ein d’Albert-Revival, und so haben wir in dieser Spielzeit Die Abreise zusammen mit Puccinis Gianni Schicchi wieder in den Spielplan aufgenommen und im Februar Die Revolutionshochzeit von d’Albert gebracht. Ich konnte Andreas Baesler dafür gewinnen, und Ottowerner Meyer hat die Ausstattung übernommen. Ich bin sehr glücklich über mein neues Team. (…)
Als ich aufstehe, fällt mein Blick auf ein Foto von Jean Louis Barrault, dessen Regieassistent Leon von 1963 bis 1966 in Essen war. „Vorgestern bin ich von seiner Beerdigung zurückgekommen“, sagt Léon leise.
Inzwischen (1994) hat er vor den Schwierigkeiten des Amtes, der Verhandlungen mit den Zuständigen und der Fusion mit dem Thüringischen Landestheater Rudolstadt, die zum Ende der Saison vollzogen wird, das Haus in jüngere Hände gewünscht und hört zum Ende dieser Spielzeit auf. Ein großer Theatermann hat aufgegeben – sehr zum Verlust des Publikums und der Oper. Julia Poser (der wir auch die Zusammenstellung von Pierre Léons Lebensdaten verdanken.)