Helene Schneiderman in einem Interview zu begegnen war seit Jahren unser Wunsch – was für eine vielseitige Künstlerin mit einer der interessantesten, aussagekräftigsten Mezzostimmen, die ich kenne. Was hat die Frau alles gesungen und gestaltet, und das bei jahrelanger gleichbleibender Qualität, unglaublich! Gefeiert wird sie auf den großen Opernbühnen in aller Welt. Doch so richtig und besonders geliebt wird sie in Stuttgart, wo sie seit 30 (!) Jahren zum Ensemble der Staatsoper gehört. Mit der bezaubernden Mezzosopranistin, die aktuell an der Oper Stuttgart die Lucilla in Jommellis Berenike (s. die Kritik in operalounge.de) singt, sprach Hanns-Horst Bauer über Karriere und Familie, Zumutungen und Emotionen. G. H.
Sie sind seit drei Jahrzehnten festes Ensemblemitglied der Staatsoper Stuttgart und dort seit elf Jahren Kammersängerin. Hat es Sie nicht manchmal gereizt, nur noch frei schaffend tätig zu sein? Ich habe mich von Anfang an in Stuttgart herzlich aufgenommen gefühlt. Schon bei der Vorbereitung meiner ersten großen Partie, das war Rossinis Cenerentola, hat das Orchester bei der Probe ganz spontan geklatscht. Das war ein ganz tolles Gefühl. Für mich war es immer sehr wichtig, ein richtiges Zuhause zu haben. Wenn ich schon nicht mehr in meinem Heimatland USA sein sollte, dann wollte ich hier wenigstens Fuß fassen und Wurzeln schlagen.
Sicher hätte ich auch in Heidelberg bleiben können, wo ich mein Herz an Michael, meinen Mann, verloren habe. Aber als die Einladung nach Stuttgart kam, konnte ich einfach nicht Nein sagen. Vor allem hat mir mein fester Vertrag hier die Möglichkeit geboten, verhältnismäßig frei zu leben, und das hieß für mich, auch eine Familie gründen zu können. So habe ich jetzt zwei wunderbare Töchter – Liviya (25) und Lara (22) – und konnte eine ganz normale Ehe führen, was bei Sängern leider nicht immer selbstverständlich ist. Irgendetwas muss man ja meist aufgeben, wenn man eine große Karriere machen will. Doch ich wollte meiner tollen Familie, in der ich mich immer noch so geborgen fühle, nichts opfern. Sie haben die Familie ganz klar vor die berufliche Karriere gestellt? Ja, unbedingt. Aber vielleicht wollen Opernliebhaber und Fans so etwas gar nicht hören und erwarten, dass man das Singen über alles in der Welt stellt. Eine Diva wollten Sie also nicht werden? Nein, im negativen Sinn des Wortes ganz bestimmt nicht. Ich setze auch heute noch lieber auf Überraschungseffekte und will das Publikum nicht nur mit meinem Namen, sondern vor allem mit meiner Leistung überzeugen und begeistern. Das garantiert eine lange, beständige Karriere auf hohem Niveau; sonst ist man unter Umständen bereits nach zehn, zwanzig Jahren oder gar schon früher weg von der Bühne.
Ihre Karriere haben Sie ganz bewusst langsam und wohl durchdacht angegangen. Das scheint Ihren jahrzehntelangen Erfolg auszumachen. Ganz bestimmt. Ich habe den Eindruck, dass Sänger, die sich genau so verhalten, auch immer besser werden. Da stellt sich dann unweigerlich die Frage, welche Rollen ich noch wirklich überzeugend singe, wenn ich älter werde. Ein Mezzo hat es da aber zum Glück leichter als ein Sopran. Ich könnte beispielsweise in Mozarts Figaro fast alle weiblichen Hauptrollen singen. Hat es Sie nicht doch manchmal gereizt, ein wenig mehr in der medialen Öffentlichkeit präsent zu sein? Natürlich ist es reizvoll, mit einem coolen Gesicht auf einem CD-Cover oder auf einem Werbeposter im Bus in Salzburg oder sonst wo auf sich aufmerksam zu machen. Da hätte ich allerdings einige Entscheidungen anders fällen müssen. Doch wo wäre ich dann heute? Wäre ich so glücklich wie jetzt?
Zweifellos gehören Sie zu den ganz großen Publikumslieblingen, und das nicht nur in Stuttgart. Wie gehen Sie mit einer solchen emotionalen Zuneigung, ja frenetischen Begeisterung um? Das ist für mich schon eine Verpflichtung, ja eine enorme Herausforderung. Deshalb bin ich vor einer Premiere immer ganz schön nervös, habe richtig Lampenfieber. Aber da packt mich auch der Ehrgeiz. Ich will ja mein Publikum nicht enttäuschen. Und in Sachen Kritik bin ich glücklicherweise etwas verwöhnt, da ich fast nur positive Kritiken bekomme. Trotzdem habe ich ein bisschen Angst, sie zu lesen, weil ich ein sehr sensibler und vielleicht auch ein wenig abergläubischer Mensch bin. Oft warte ich deshalb einfach, bis mir jemand davon erzählt oder mir die Kritik, wie das meine Nachbarin gerne macht, an die Haustüre hängt. Manchmal lasse ich sie auch erst meinen Mann lesen, der übrigens neben mir selbst einer meiner strengsten Kritiker ist. Leider können Kritiken herzlos, ja sogar gemein und bösartig sein. Eigentlich sollte man sie gar nicht lesen, aber das ist ja wohl kaum möglich.
Sie waren sechs Jahre lang als Professorin am Salzburger Mozarteum tätig und geben nach wie vor viele Meisterkurse. Da müssen Sie selbst Kritik üben. Was versuchen Sie den jungen Sängerinnen und Sängern zu vermitteln? Ich rate ihnen, in sich hineinzuhören und auf ihre Stimme aufzupassen. Ganz wichtig sind höchste Disziplin und die Einsicht, dass man nicht alles haben kann, dass man auch Nein sagen können muss. Zum Singen gehört nicht nur eine schöne Stimme, gefordert wird immer die ganze Person. Wo liegen für Sie beim zeitgenössischen Musiktheater die Grenzen des Zumutbaren? Was erwarten Sie von einem Regisseur? Er muss das Potential, das in einem Sänger steckt, erkennen und fördern. Natürlich habe ich für mich ganz persönlich Grenzen gesetzt. Solange ich beispielsweise schauspielerisch und menschlich klären kann, warum ich auf dem Kopf stehen muss, wenn ich eine Arie singe, dann würde ich auch auf dem Kopf stehen und singen. Sonst nicht. Wenn ein Regisseur zu wenig von mir verlangt, auch das kommt bisweilen vor, dann muss ich mir selber etwas einfallen lassen und ihn davon überzeugen.
Welche der gut 70 verschiedenen Rollen, die Sie auf der Bühne verkörpert haben, würden Sie als Traumrollen bezeichnen? Haben Sie überhaupt noch neue Partien auf Ihrer Wunschliste? Das waren zu Beginn meiner Karriere ganz sicher die großen Rossini- und Mozart-Partien, doch inzwischen sind mir Händel, Puccini und viele andere Komponisten genauso lieb. Ich lasse mich da gerne überraschen. Es gibt ganz sicher viele Rollen, von denen ich gar nichts weiß. Vielleicht komponiert ja sogar jemand etwas ganz speziell für mich? Sehr gerne würde ich noch Jacques Offenbach singen, die Schöne Helena, La Périchole, die Großherzogin von Gerolstein. Und natürlich jede Menge Händel. Ihn singe ich leidenschaftlich gern. Mit welchen Rollen konnten Sie sich zuletzt auseinandersetzen? Unter anderem mit ganz vielen Marcellinas in Mozarts Figaro. Ob mit David Mc Vicar in London, Emilio Sagi in Madrid, Dieter Dorn in München oder jetzt wieder in Stuttgart in der Produktion von Nigel Lowery, es ist einfach spannend und interessant, ein- und dieselbe Rolle aus unterschiedlichen Blickwinkeln kennenzulernen. Im April werde ich die Rolle im Theater an der Wien singen, wo Marc Minkowski am Pult steht. In seiner neuen Holländer-CD-Aufnahme habe ich zuletzt die Mary gesungen. Richtig fasziniert hat mich im vergangenen Jahr die Zusammenarbeit mit Richard Jones in Glyndebourne. Dort war ich Anina im Rosenkavalier. Es war einfach fantastisch, und ich habe sehr viel dazugelernt.
Wie sind Sie denn überhaupt zur Musik und zum Gesang gekommen? Ich habe gesungen, solange ich zurückdenken kann. Bei uns zu Hause wurde auch immer musiziert. Theaterblut lag in der Familie. Meine Eltern haben sich nach dem schrecklichen Holocaust, den beide zum großen Glück überlebt haben, auf der Bühne eines Displaced Persons Camp in Landsberg kennengelernt. Aber mit einem Aha-Erlebnis, einer spektakulären Initialzündung kann ich nicht dienen. Eigentlich wollte ich ja Lehrerin werden, doch dann hat man mir geraten, Gesangsstunden zu nehmen, da ich offensichtlich eine schöne, klare Stimme hatte. Ganz besonders beeindruckt haben mich Mezzosopranistinnen wie Teresa Berganza oder Frederica von Stade, aber auch große Soprane wie die Callas oder Edita Gruberová.
Bei Ihrem vollen Terminkalender dürften Sie nicht viel Freizeit haben? Wenn ich in meinen Terminkalender schaue, bekomme ich manchmal richtig Bauchweh und frage mich, wann ich das alles lernen soll. In meiner freien Zeit gehe ich nicht nur gerne mit Mann und Hund im Wald spazieren, sondern koche auch mit Begeisterung. Und das nicht nur für die Familie, sondern ganz mutig sogar für TV-Sternekoch Vincent Klink? Ja, ich habe nicht nur ganz vorzüglich in seinem Restaurant gespeist, sondern habe es sogar gewagt, für ihn bei mir zu Hause Cincinatti-Chili zu kochen. Wir haben dann auch gemeinsam mit dem Littmann Quartett Rossini-Matineen auf verschiedenen Schlössern und auf der Insel Mainau veranstaltet. Vincent hat moderiert, und ich habe ein paar passende Arien dazu beigetragen.
Sie stammen aus einer jüdischen Familie. Ihre Eltern haben den Holocaust in Auschwitz, Buchenwald und Dachau überlebt. Wie hat Sie diese schreckliche Vergangenheit Ihrer Familie geprägt? Sie hat mich und meine drei Brüder stark geprägt und beeinflusst. Die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, ist mir damals nicht leicht gefallen. Doch die Chancen für eine junge Nachwuchssängerin, ich war damals 26, waren hier einfach größer als in Amerika. Meine Eltern haben mir, obwohl ihnen das ganz sicher sehr, sehr schwer gefallen ist, sogar dazu geraten, weil sie für mich einfach das Beste wollten und mir vermittelt haben: Wir lieben unsere Tochter mehr, als wir je einen Menschen hassen könnten. Ihnen habe ich jetzt eine bei Carus erschienene CD mit jiddischen Liedern gewidmet, auf der auch vier Originalaufnahmen von meinen Eltern zu hören sind: „Makh tsu di Eygelekh“ – „Mach deine Augen zu“. Es ist das erste Lied, an das ich mich aus meiner Kindheit erinnere. Meine Mutter sang mich damit in den Schlaf. Sie hat es unzählige Male liebevoll und geduldig wiederholt, bis auch ich es singen konnte.
Vita: Helene Schneiderman wurde in Flemington (New Jersey) geboren und erhielt ihre Ausbildung in Princeton und Cincinnati, die sie mit dem Grad eines Masters of Music und mit dem Operndiplom abschloss. Nach einem zweijährigen Engagement in Heidelberg wurde die lyrische Mezzosopranistin 1984 Mitglied des Ensembles der Staatsoper Stuttgart, dem sie heute noch angehört. In den USA sang sie an der New York City Opera sowie an den Opernhäusern in San Francisco und Seattle. Sie gastierte erfolgreich unter anderem in Dresden und München, in Amsterdam, Rom, Tel Aviv und Paris. Außerdem wirkte sie bei den Festspielen in Ludwigsburg, Schwetzingen, Pesaro, Glyndebourne und Salzburg mit, wo sie in Verdis Oper La traviata neben Anna Netrebko und Rolando Villazón auftrat. Von 2007 bis 2013 war sie Professorin für Sologesang an der Universität Mozarteum Salzburg.
Ihr umfangreiches Repertoire reicht von den Opern Monteverdis, Jomellis und Händels bis zum Rosenkavalier von Richard Strauss und zu Adriana Hölzkys Bremer Freiheit, von den Mozart-Partien Dorabella und Sesto bis zur Carmen und Nancy in Flotows Martha. Zu ihren Paraderollen gehören Rossinis Koloraturpartien Isabella, Cenerentola und Rosina.
Helene Schneiderman, für die Oratorienkonzerte und Liederabende zum unverzichtbaren Schwerpunkt ihrer künstlerischen Laufbahn gehören, wurde 1998 zur Kammersängerin ernannt und erhielt 2008 die Otto-Hirsch-Medaille für ihre Verdienste um die christlich-jüdische Zusammenarbeit und ihren Einsatz für jiddisches Liedgut. 2010 wurde die Sängerin mit dem Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.
CDs hat Helene Schneiderman bei verschiedenen Plattenfirmen aufgenommen, darunter Donizettis Anna Bolena mit Edita Gruberova (Nightingale Classics), Songs von Aron Copland unter Dennis Russell Davies (Nimbus), Händels Teseo als Live-Mitschnitt der Stuttgarter Oper (Carus) oder, ebenfalls bei Carus, Volks- und Wiegenlieder. Auf DVD gibt’s unter anderem die Stuttgarter Produktionen von La Sonnambula und Alcina, die Traviata aus Salzburg sowie einen Marthaler-Figaro aus Paris mit dem Stuttgarter GMD Sylvain Cambreling am Pult. H.-H. B.