Orchesterlieder

 

Juliane Banse ist Lieder- und Opernfans seit langem ein Begriff. Dass sie sich in Liederabenden vor allem auch dem selteneren Repertoire widmet, vermerkt man mit Hochachtung und Beifall – es ist ja immer wichtig, dass die weniger bekannten Werke von den berühmten Sängern propagiert werden.

Anlässlich ihrer neuen CD „Im Arm der Liebe“ mit Orchesterliedern von Marx, Braunfels, Korngold und Pfitzner mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Sebastian Weigle bei BR Klassik (900322) führte Katharina Oberhofer-Ast mit der Künstlerin ein Gespräch, das wir hier gekürzt wiedergeben. Und zu dem Phänomen der Orchesterlieder folgt ein Artikel von Wolfgang Stähr, den wir dem Booklet der neuen CD von Juliane Banse entnahmen – Dank an den Autor und Doris Sennefelder vom Münchener Rundfunkorchester. G. H.

 

Juliane Banse: „Im Arm der Liebe“ bei BR Klassik (900322)

Sie haben schon einige Male mit dem Münchner Rundfunkorchester zusammengearbeitet – unter anderem in einer Aufführung von Walter Braunfelsʼ Verkündigung, in der Sie die Hauptrolle der Violaine überragend gestaltet haben und die auch auf CD dokumentiert ist. Fühlen Sie sich ein wenig zu Hause beim Münchner Rundfunkorchester? Ja, absolut !! Besonders in der Zeit von Ulf Schirmer [Künstlerischer Leiter bis August 2017] war ich öfter da, und immer mit ganz besonderen Projekten; dafür bin ich sehr dankbar! Es herrscht eine sehr entspannte, aber zugleich höchst konzentrierte Arbeitsatmosphäre, das finde ich unglaublich angenehm.

Nun haben Sie gemeinsam mit dem Rundfunkorchester eine CD mit Orchesterliedern unter dem Titel „Im Arm der Liebe“ herausgebracht. Wie sind Sie auf die Zusammenstellung der Werke gekommen? Das war ein längerer Prozess, bei dem wir unter anderem auch auf die Besetzungsmöglichkeiten des Rundfunkorchesters Rücksicht nehmen mussten. Ich hatte einige Stücke im Kopf, die ich mir sehr wünschte, und es war dann die Frage, wie man einen sinnvollen „roten Faden“ findet, um ein gesamtes CD-Programm zu erhalten, das Sinn macht. Herausgekommen ist eine Sammlung von Liedern, die alle zwischen 1910 und 1920 geschrieben wurden, und die in faszinierender Weise zeigt, wie unterschiedlich die Strömungen damals waren und wie doch alle aus der gleichen Tradition entstanden!

Wie lange hat es gedauert, die Werke einzustudieren? Einige der Lieder hatte ich schon mit Klavier bei Liederabenden gesungen, die waren schnell im Kopf, andere waren komplett neu und brauchten etwas mehr Beschäftigung. Aber da es alles wunderbare und leicht ins Ohr gehende Melodien sind, war es keine schwere Arbeit!

Juliane Banse (Foto Stefan Nimmesgern/ BR Klassik

Im Kunstlied ist der Text ein wichtiger Bestandteil. Lesen Sie gerne? Wenn ja, was? Vielleicht sogar auch Gedichte? Ich lese natürlich die Gedichte, wenn ich die daraus komponierten Lieder lerne. Ich finde es wichtig, dass man auch das zu Grunde liegende Gedicht OHNE die Musik kennenlernt. In meiner Freizeit bin ich allerdings eher der Typ von historischen Romanen und Krimis. Im Moment fülle ich gerade meine peinliche Bildungslücke und lese alle „Harry Potters“ auf Englisch − macht großen Spaß!!

Gibt es darüber hinaus noch Hobbys, für die Sie sich Zeit nehmen? Wann immer es geht, bin ich im Fitness-Studio oder im Tanzstudio, um einigermaßen fit zu bleiben. Wenn man in der Vergangenheit, so wie ich, intensiv Sport getrieben hat, dann fehlt einem das sonst.

Ihr Mann Christoph Poppen ist als Dirigent und Geiger wie Sie viel unterwegs. Haben Sie Zeit für gemeinsames Essen mit der Familie? Ja, wir legen großen Wert darauf, ab und zu alle zusammen am Tisch zu sitzen, ich stelle immer wieder fest, dass das für die Familie ganz wichtig ist.

Diskutieren Sie zu Hause auch über Musik oder ist das ein Tabu im Musikerhaushalt? Ein Tabu ist es überhaupt nicht, und natürlich sprechen wir über Dinge, die uns beruflich beschäftigen, aber das hält sich die Waage mit allen möglichen anderen Themen.

Geben Sie sich gegenseitig Tipps? Eigentlich eher selten … Manchmal kommt es dazu, wenn wir gemeinsam arbeiten, dass man dem anderen sagt, wenn einem etwas auffällt. Aber wenn zuhause jeder seine eigenen Projekte vorbereitet, dann macht das eher jeder für sich.

Wie führen Sie Ihre Kinder an Musik heran? Die Kinder haben natürlich von Babytagen an automatisch ganz viel mitbekommen und die Musik als etwas kennengelernt, was ganz einfach zum Leben dazu gehört. „Heranführen“ ist also eigentlich nicht nötig. Allerdings ist dann wie in allen anderen Familien das „Dranbleiben“ die Herausforderung. Denn Üben ist bei uns genauso Thema wie überall …

Juliane Banse: „Das Tagebuch der Anne Frank “ im Theater an der Wien © Herwig Prammer

Ist Sängerin nach wie vor Ihr Traumberuf? Ich bin nach wie vor überzeugt, dass es für mich der richtige Beruf ist; ich habe es keinen Moment bereut. Allerdings hat „Traumberuf“ immer so den Anschein, dass es keine Schattenseiten gibt; das ist natürlich wie in jedem anderen Beruf nicht so. Es ist ein wunderschöner und schwerer Beruf, der das ganze Leben bestimmt und bis zum letzten Ton der Karriere kein Zurücklehnen erlaubt, das nervt manchmal ein bisschen, aber das Sängerinnen-Dasein hat mir auch viele wunderbare Erlebnisse und Begegnungen beschert, die dann auch immer wieder Lust und Energie zurückgeben!

Wo üben Sie am liebsten? Im stillen Kämmerlein im Keller oder im Wohnzimmer mit Blick auf die Berge und mitten im Familientrubel? Am liebsten im Wohnzimmer und ganz eindeutig dann, wenn niemand zuhause ist, andernfalls werde ich ständig unterbrochen und komme zu nichts − oder mir fallen selber ständig Dinge ein, die ich noch besprechen wollte, und der Effekt ist der Gleiche! (Quelle BR Media)

 

Juliane Banse: Wenige Künstler ihrer Generation sind auf so vielen Gebieten mit verschiedenstem Repertoire so erfolgreich wie die Sopranistin Juliane Banse. Ihr Opernrepertoire reicht von der Figaro-Gräfin, von Fiordiligi, Donna Elvira und Vitellia über die Titelpartie in Schumanns Genoveva und weitere große Rollen wie Leonore, Tatjana und Arabella bis hin zu Grete in Schrekers Der ferne Klang. Ihren künstlerischen Durchbruch erlangte sie bereits 20-jährig als Pamina an der Komischen Oper Berlin in einer Produktion von Harry Kupfer. Hervorzuheben ist auch ihr Auftritt als Schneewittchen bei der Uraufführung der gleichnamigen Oper von Heinz Holliger, mit dem sie eine enge Zusammenarbeit verbindet, an der Oper Zürich. Die in Süddeutschland geborene und in Zürich aufgewachsene Sopranistin nahm zunächst Unterricht bei Paul Steiner, später bei Ruth Rohner am Opernhaus Zürich und vervollständigte dann ihre Studien bei Brigitte Fassbaender und Daphne Evangelatos in München. Mit dem Wintersemester 2016/2017 übernahm sie selbst eine Gesangsprofessur an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf.

Juliane Banse: als Elsa mit Michaela Schuster/ Ortrud in Brüssel/ Foto Ruth Walz/ De Nationale Opera/ BR Klassik

Juliane Banse ist gern gesehener Gast an den großen Opernhäusern, so wurde sie etwa für die Uraufführung der Oper Lunea von Heinz Holliger 2018 erneut an die Oper Zürich verpflichtet. Sie war z.B. in der Hauptrolle von Grigory Frids Tagebuch der Anne Frank am Theater an der Wien zu erleben, als Donna Elvira in Mozarts Don Giovanni an der Wiener Staatsoper, in der Hauptrolle von Poulencs Monooper La voix humaine an der Berliner Staatsoper, als Rosalinde (Die Fledermaus) in Chicago oder als Zdenka in Strauss‘ Arabella an der Metropolitan Opera in New York. Die Marschallin im Rosenkavalier singt sie erstmals in der Saison 2017/2018.

Auch im Konzertbereich ist die Künstlerin mit einem weit gefächerten Repertoire gefragt. Mit zahlreichen namhaften Dirigenten hat sie zusammengearbeitet, darunter Lorin Maazel, Riccardo Chailly, Bernard Haitink, Franz Weiser-Möst, Mariss Jansons, Zubin Mehta und Manfred Honeck. Überdies sind Liederabende seit jeher fester Bestandteil ihres Kalenders. So trat Juliane Banse u.a. bei der Schubertiade  Vilabertran, in Oxford, bei der Liedwoche auf Schloss Elmau mit Wagners Wesendonck– Liedern oder auch im Rahmen der ersten Konzerte im neuen Pierre-Boulez-Saal in Berlin auf.

Das Münchner Rundfunkorchester/ Foto BR Klassik

Zahlreiche CDs der Künstlerin sind preisgekrönt, gleich zwei erhielten den ECHO Klassik: Braunfels‘ Jeanne D’Arc (Welt-Ersteinspielung des Jahres) sowie Mahlers 8. Symphonie mit dem Tonhalle-Orchester Zürich unter David Zinman. Weitere herausragende Projekte waren die Arien-CD Per amore, die Lied-Aufnahme Tief in der Nacht mit Aleksandar Madzar sowie der Film Hunter’s Bride/Der Freischütz mit Juliane Banse als Agathe. Im Februar 2017 erschien die CD Unanswered Love mit teils erstmals eingespielten und ihr gewidmeten Werken von Reimann, Rihm und Henze, die sie mit der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Christoph Poppen herausgebracht hat. In der Saison 2017/2018 folgt eine Einspielung von Hindemiths Marienleben mit Martin Helmchen am Klavier.

Mit dem Münchner Rundfunkorchester hat die Sopranistin in Konzert und Aufnahmestudio bereits mehrfach zusammengearbeitet. Beispielhaft angeführt sei hier nur der Live- Mitschnitt des Mysteriums Verkündigung von Walter Braunfels unter der Leitung von Ulf Schirmer mit einer beeindruckenden Juliane Banse in der Rolle der Violaine (Quelle BR Media).

 

 

Und nun Wolfgang Stähr zum Phänomen der Orchester-Lieder: Stille Kammer, weite Welt – wie das Lied zum Orchester kam. Der Vortrag von Liedern im öffentlichen Konzert erscheint uns heute als eine Selbstverständlichkeit – ist es aber nicht. Diese Praxis war im 19. Jahrhundert noch vehement umstritten. Das Lied gehöre in die Sphäre der Hausmusik, des Salons, des geselligen oder elitären Kreises, aber keinesfalls in die Öffentlichkeit, so lautete eine weitverbreitete Meinung. Vor 1830 waren denn auch Aufführungen von Liedern im Konzert ein äußerst seltenes und isoliertes Ereignis. Und dass allmählich im Laufe der Jahrzehnte das Lied einen Platz im öffentlichen Konzert erobern konnte, lag zunächst einmal an einer Art der Programmzusammenstellung, die eine unbekümmerte Mischung der verschiedensten Gattungen und Besetzungen ermöglichte. In seinem 1911 erschienenen Buch Berlin als Musikstadt schreibt Adolf Weissmann: „Die Programme der Konzerte von anno dazumal sind in ihrer überwiegenden Mehrzahl eine Verherrlichung der gemischten Kost. Man findet es ganz in der Ordnung, dass eine Sinfonie, von der ein Satz gespielt wird, eine Arie, ein Rezitativ, ein Klarinettenkonzert aus der Werkstatt des Vortragenden, noch eine Arie, noch ein Sinfoniesatz in schier unendlicher Ausdehnung aneinander gereiht werden. Als stilvoll galt es schon, wenn an der Spitze jedes Teils eine Ouvertüre stand.“

Orchesterlieder: Hans Pfitzner/ OBA

Ein Lied inmitten eines Orchesterkonzerts – kam das einer groben Stillosigkeit gleich? Oder war es der einzige Weg, um dieser intimen Kunst zu größerer Aufmerksamkeit zu verhelfen? Diese Frage bot jahrzehntelang Anlass zu Bekenntnis und Meinungsstreit. 1856 äußerte sich dazu Franz Brendel, Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Musik: „Soll nun das Lied von der Oeffentlichkeit ganz ausgeschlossen sein, und auf diese Weise die Möglichkeit der Einführung und Verbreitung in weiteren Kreisen entbehren? Soll eine Gattung vernachlässigt werden, die den Deutschen eigenthümlich und in der wir bis herab auf die neueste Zeit das Ausgezeichnetste erhalten haben?“ Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich die fundamentale Debatte nicht beruhigt. In der Zeitschrift Die Musik war 1903 ein Artikel zu lesen, dessen Autor, stellvertretend für viele Gleichgesinnte, den Ausschluss des klavierbegleiteten Liedes aus dem Orchesterkonzert verlangte: „Ganz unbedingt notwendig ist es aber, die lyrischen Solostücke aus den Symphoniekonzerten durchaus zu verbannen. Es gehört die ganze Unempfindlichkeit unsers ästhetischen Sinnes dazu, nach grossen Orchesterstücken Lieder mit Klavierbegleitung anzuhören. Diese Kompositionen sind auf intime Räume angelegt; ihre musikalische Struktur unterscheidet sie ebensosehr von den symphonischen Werken, wie die Vortragsart, die sie fordern. Wie häufig kann man beobachten, dass Sänger, die im Zimmer durch die Feinheit ihres Vortrages entzückten, im grossen Konzertsaale gerade durch ihre echte, zarte Kunst unterlagen!“

Es erscheint wie eine Ironie oder wie eine klug gesetzte Pointe des Zufalls, dass Hans Pfitzner ausgerechnet im selben Jahr 1903 ein „Deutsches Volkslied“ komponierte, Untreu und Trost, ein künstliches Volkslied, als Beitrag zu einem Wettbewerb des Magazins Die Woche, und dieses zwischen dem längst kodifizierten „Volkston“ und der künstlerischen, namentlich kontrapunktischen Ambition changierende Stück später auch noch vom begleitenden Klavier auf das Orchester übertrug – als hätte er alle Bedenken gegen lyrische, symphonische und ästhetische Empfindlichkeiten ad absurdum führen wollen. Ein sogenanntes Volkslied aus der Feder eines tief vergrübelten Kom­ponisten, und dann auch noch mit Symphonieorchester vom Zimmer ins Konzerthaus gehievt! Übrigens erweisen sich auch die ab 1911 entstandenen Sechs einfachen Lieder op. 9 des Wiener Musikkritikersohnes und ins Erwachsenenalter aufbrechenden Wunderkindes Erich Wolfgang Korngold mitnichten als „einfach“, sondern vielmehr als artifiziell, raffiniert, süffig, melodisch extravagant und harmonisch schillernd – und auch sie hat Korngold (mit einer Ausnahme) alle orchestriert, ohne sich irgendeine „hausmusikalische“ Zurückhaltung bei der Wahl und Zahl der Instrumente aufzuerlegen.

Orchesterlieder: Joseph Marx/ Joseph-Marx-Gesellschaft

Doch diese Plädoyers, geplant oder unbeabsichtigt, kamen längst schon zu spät, denn die Wiedergabe klavierbegleiteter Lieder im Orches­terkonzert war bereits durch zwei historische Entwicklungen im Musikleben grundlegend in Frage gestellt. Als der Bariton Julius Stockhausen 1856 in Wien eine vollständige zyklische Aufführung der Schönen Müllerin ankündigte, sorgte allein schon die Idee, ein Konzert ganz dem Lied zu widmen, für Aufregung. Aber Stockhausen vermochte selbst Skeptiker zu überzeugen: Seine Interpretationen der Müllerin, der Winterreise und der Dichterliebe ließen die Kritiker verstummen, die meinten, vor quälender Monotonie und Überanstrengung der Sänger warnen zu müssen. Der zweite Pionier neben Stockhausen war der Wiener Hofopernsänger Gustav Walter, der 1876 mit einem reinen Schubert- Programm derart erfolgreich war, dass er fortan alljährlich solche Schubertabende veranstaltete, die zu besuchen zur gesellschaftlichen Pflichtübung avancierte.

Der Enthusiasmus für die neue Konzertform des „Liederabends“ fiel in eine Zeit, da der Ruf nach Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Programme immer lauter wurde. Nur ein oder zwei Komponisten sollten aufgeführt werden; zumindest suchte man thematische Schwerpunkte und Eingrenzungen nach Aspekten der Epoche oder der Nationalität. Und mit der Forderung nach Homogenität der Besetzung waren nicht nur die Tage der „gemischten Kost“ gezählt: Auch das klavierbegleitete Lied musste als unerwünschter Fremdkörper den überfälligen Konzert­reformen weichen. In dem Standardprogramm, das sich mit dem Schema Ouvertüre – Solokonzert – Symphonie durchzusetzen begann, war es unbestreitbar fehl am Platz. Mit dem unaufhaltsamen Liederabend- Boom entfiel schließlich auch die Notwendigkeit, der vagabundierenden Gattung ein Gastrecht im Orchesterkonzert einzuräumen. Nun hatte allerdings in den 1830er Jahren der französische Romantiker Hector Berlioz damit angefangen, eigene Lieder zu orchestrieren, aus recht pragmatischen Überlegungen, um eine Neuheit oder beliebte Sänger in seinen Konzerten präsentieren zu können. Und das Ergebnis stellte ihn sehr zufrieden: „Zehnmal wirkungsvoller als auf dem Klavier.“ Mit diesen Orchesterfassungen – am berühmtesten ist der Zyklus Les Nuits dete – hatte Berlioz als Erster, jedenfalls als erster namhafter Komponist dem Lied einen Besetzungstypus erschlossen, der bis dahin nur für Solokantaten und Konzertarien üblich war. Franz Liszt, der gleich Berlioz die Gattungsgrenzen experimentierfreudig ignorierte, hat ebenfalls für eigene Lieder – und für einzelne Schubert-Lieder – orchestrale Versionen geschrieben. Und auch Johannes Brahms kam der Bitte seines Freundes Julius Stockhausen nach und orchestrierte (mit sehr gemischten Gefühlen) Lieder von Franz Schubert.

Orchesterlieder: Erich Wolfgang Korngold (rechts) gibt dem Wagner-Darsteller Alan Badel Dirigierunterricht.für den Film „Magic Fire„, für den er den Soundtrack erstellte/ Foto STV

Doch erst mit einer anderen Komponisten-Generation begann die Goldene Ära des orchestrierten Klavierliedes und des originalen Orchesterliedes: mit Hugo Wolf und vor allem mit Gustav Mahler, beide Jahrgang 1860 („Fort mit dem Klavier!“, lautete Mahlers stürmische Forderung: „Wir Modernen brauchen einen so großen Apparat, um unsere Gedanken, ob groß oder klein, auszudrücken.“), mit dem 1864 geborenen Richard Strauss, der sich wie der jüngere Korngold auf Stimmschmelz, Orchesterglanz und großes Theater gleichermaßen verstand, mit Hans Pfitzner, geboren 1869, und mit Max Reger, der 1873 zur Welt kam. Aber auch mit heute „vergessenen“ und deshalb endlich „wiederentdeckten“ Meistern wie den beiden im Jahr 1882 geborenen Joseph Marx und Walter Braunfels. Der Grazer Joseph „Pepo“ Marx, der in seinen guten, mit Ämtern und Würden reich gesegneten Tagen einmal der meistgespielte lebende österreichische Komponist war, repräsentiert die andere, nicht zwangsläufig anachronistische Seite der Moderne, die gemeinhin mit dem Stempel „spätromantisch“ versehen wird. Seine überaus ästhetisch und empfindlich, niemals maß- oder uferlos instrumentierten Vokalwerke demonstrieren aufs Schönste die glückliche Doppelnatur des Orchesterliedes, das – wie die Epoche, der es angehört – das Ätherische mit dem Exaltierten, die intime Seelenerkundung mit der schwelgerischen Schönheit, den verführerischen „großen Apparat“ mit der fragilen Individualität verbindet, vereint und versöhnt.

Die im Weltkriegsjahr 1914 komponierten, äußerst delikaten, von Wagner und Strauss angehauchten Drei chinesischen Gesänge op. 19 des in Frankfurt am Main geborenen, in Wien und München ausgebildeten, allen schönen Künsten aufgeschlossenen Walter Braunfels waren von Anfang an für Sopran und Orchester bestimmt – aber nicht als Nachtrag zum einstmals modischen Exotismus gedacht. Die Gedichte hatte er einem kunstgewerblichen Band mit Lyrik aus dritter Hand entnommen: der 1907 im Leipziger Insel-Verlag erschienenen Chinesischen Flöte. Darin hatte der deutsche Schriftsteller Hans Bethge chinesische Verse aus dem achten nachchristlichen Jahrhundert geschmackvoll arrangiert, mit Sinn für Schönheit, Fernweh, Naturpoesie, erlesene Details und östliche Meditation, aber da er des Chinesischen nicht mächtig war, formulierte er seine Nachdichtungen mit Hilfe französischer, englischer und deutscher Übersetzungen. Wenige Jahre zuvor schon hatte sich Gustav Mahler von Bethges Chinesischer Flöte zu unvergleichlich anspruchsvollen, existentiellen Orchesterliedern inspirieren lassen, die er schließlich zu einer sechssätzigen Symphonie ausformte: Das Lied von der Erde. Damit war zwar noch nicht das letzte Wort gesprochen, und doch eine Grenze bezeichnet, die das scheue Lied im Scheinwerferlicht der großen Öffentlichkeit erreichen konnte.

Walter Braunfels/ Foto Michael Braunfels/Walter-Braunfels-Website

Gehört es dort tatsächlich hin? Im Jahr 1900 versammelte eine Flugschrift mit dem Titel Das neue Lied einige Vorschläge, wie die Liedkunst im großen Konzertsaal ihren gefährdeten Feinsinn verteidigen könne: indem der Sänger von einem Schleier verhüllt oder in ein stilisiertes Gewand gekleidet werde, indem der Raum in Dunkelheit getaucht, von leisen Düften durchzogen oder mit sacht an- und abschwellenden Lichtakkorden illuminiert werde. Und dergleichen mehr – alles schön und gut. Aber womöglich genügt auch die Musik allein, ohne Licht und Duft, auf Tonträger gebannt und heimgekehrt an den Ursprungsort des Liedes: die stille Kammer. Wolfgang Stähr/ BR Klassik (Quelle Booklet der CD von Juliane Banse „Im Arm der Liebe, BR Klassik/ Foto oben: Juliane Banse © Elsa Okazaki/ BR KLassik)