“In drei Minuten zum hohen C” war der Titel der Süddeutschen Zeitung nach der Premiere von Les vêpres siciliennes an der Bayerischen Staatsoper. Der italienische Tenor Leonardo Caimi rettete diese Premiere in allerletzter Minute und sprang für einen plötzlich erkrankten Kollegen im fünften Akt, just vor der gefürchteten Arie “Le brise souffle au loin”, die mit einem hohen C endet, ein, und erntete Ovationen. Gern gesehener Gast an vielen internationalen Bühnen ist der Sänger in Deutschland besonders häufig zu erleben, 2018/ 2019 unter anderem als Don José und als Calaf an der Oper Leipzig sowie als Cavaradossi am Aalto-Theater in Essen. Im Dezember 2018 rettete er, der eigentlich als Klarinettist angefangen hatte, bereits eine Premiere an einem deutschen Haus, in Verdis Ballo in maschera am Staatstheater Darmstadt. Der Tenor mit Nerven aus Drahtseilen sprach mit Dieter Schaffensberger über eben solche riskante Einspringsituationen, über die neue Carmen an der Oper Leipzig und warum seine Gesangskarriere eigentlich erst einmal eine Notlösung war.
Wann begannen Sie, sich für Gesang und Oper zu interessieren? Und wo wurden Sie ausgebildet? Der Gesang ist ein Geschenk, das aber zu Beginn eine Notlösung zu sein schien. Es mag nicht schön klingen, dieses Wort zu verwenden, aber im ersten Moment war es so. Ich habe später realisiert, dass der Gesang mich eigentlich begleitet hat, seit ich drei Jahre alt war und ich mit einer Plastikgitarre auf den Küchentisch sprang und italienische Lieder schmetterte. Später, vor meiner Gesangsausbildung und während ich Philosophie studierte, imitierte ich im Auto auf dem Weg zur Universität Sänger wie Del Monaco, Pavarotti, Gigli, Corelli und Di Stefano.
Ich war eigentlich Klarinettist, hatte ein abgeschlossenes Studium in der Tasche und besuchte die Akademie von Rom, um mich zu perfektionieren, als ich mich durch einen Autounfall an der linken Hand verletzte. Ich wurde operiert und konnte nach dem Eingriff meine Finger zwar wieder einigermaßen normal bewegen. Aber es war klar, dass meine Karriere als Instrumentalist keine Zukunft mehr hatte. Die Finger waren nicht mehr beweglich genug und es war nicht realistisch, in ein Orchester aufgenommen zu werden oder gar eine Karriere als Solist zu starten. Viele Jahre des Studiums lösten sich also in Rauch auf. Es war ein sehr trauriger Moment meines Lebens. Erst später verstand ich, dass das alles eigentlich eine glückliche Fügung war. Ich suchte nach einer Möglichkeit, weiterhin als Musiker tätig zu sein, konnte es aber aufgrund der Probleme mit meiner Hand mit keinem Instrument versuchen. Also begann ich ein Studium in Komposition, Harmonik und Kontrapunkt, um Dirigent zu werden. Irgendwie war das aber nicht wirklich befriedigend…
Und deshalb haben Sie sich für ein Gesangsstudium entschieden? Ja, ich wollte, um jetzt ein paar meiner befreundeten Dirigenten etwas auf den Arm zu nehmen, eben zum wahren Hauptdarsteller einer jeden Opernvorstellung werden! (lacht) Mein Vater drängte mich dazu, Stunden bei einem Gesangslehrer zu nehmen, der mir sofort nachdem er mich hörte empfahl, alles zur Seite zu legen und mich nur dem Gesang zu widmen. Meine Entscheidung, Sänger zu werden, beruhte darauf, dass ich die Stimme als Instrument empfand, das ohne die Verwendung der linken Hand auskam. Wie einige Instrumentalisten mochte ich Sänger nicht besonders, ich empfand sie als ignorant und unfähig, das Tempo zu halten… Dass ich Sänger geworden bin ist also vielleicht auch eine Art göttliche Bestrafung, eine Vergeltung à la Dante! (lacht)
Es ist heute für Sie als Sänger sicher hilfreich, dass Sie ein abgeschlossenes Instrumental- und Kompositionsstudium in der Tasche haben… Man erhält als Instrumentalist und vor allem im Kompositionsstudium verglichen mit einem Gesangsstudium eine bessere musikalische Grundausbildung. Ich meine hier wirklich nur die musikalische Ausbildung. Ganz klar sind für einen Sänger auch andere Dinge wichtig, ich denke da vor allem an die Schauspielausbildung. Jedenfalls hat mir meine Ausbildung zum Klarinettisten und das Kompositionsstudium sehr geholfen, auch wenn das Philosophiestudium vielleicht noch wichtiger für mich war.
Meine Liebe zu dem magischen Ort “Theater” entstand, als ich während einer Reise mit meiner Klasse an der Pariser Opéra Garnier Schwanensee sah. Ich war 15 Jahre alt und wollte gar nicht mehr aus dem Theater gehen, ich wollte dort leben. Aber dass die Bühnenlaufbahn wirklich mein Weg sein sollte verstand ich erst, als ich als Rodolfo beim Puccini-Festival von Torre del Lago auftrat.
Und mein Bühnendebüt gab ich als Beppe/Arlecchino in den Pagliacci in Montalto Uffugo, in meiner Heimat Kalabrien. Montalto Uffugo ist der Ort, wo die wahre Geschichte stattfand, die hinter den Pagliacci steckt und von der Leoncavallo inspiriert wurde, bevor er die Oper schrieb. Er war der Sohn des Richters des Ortes. Ich sang also die Serenata des Arlecchino auf derselben Piazza, auf der sich das Drama damals wirklich abgespielt hatte. Mit der mittelalterlichen Kirche im Hintergrund, die der erste Zeuge des Verbrechens war. Und es handelte sich damals bereits um ein Einspringen, was sich als eine Art “Karma” für meine spätere Karriere erweisen sollte. Man rief mich damals morgens für die Vorstellung am selben Abend an. Es war wirklich eine Feuerprobe, ich hatte damals noch nie mit einem Orchester gesungen. Ich war so aufgeregt! Wer weiß, vielleicht half mir diese Erfahrung, später in sehr viel wichtigeren Momenten die Aufregung unter Kontrolle zu halten. Ich denke hier zum Beispiel an den Don Carlo, den ich an der Deutschen Oper Berlin sang und vor allem an das Einspringen in “Les vêpres siciliennes” an der Bayerischen Staatsoper letzte Spielzeit. Ich könnte hier aber noch viele andere Einspringsituationen nennen.
Das Einspringen in der Premiere von Les vêpres siciliennes in München war aber eine besonders dramatische Situation, die viel Aufmerksamkeit erregte… Das war wirklich unglaublich: Man rief mich an, um für die Generalprobe einen wunderbaren Kollegen zu ersetzen, dem es nicht gut ging. Ich war gerade am La Monnaie in Brüssel, wo ich in Cavalleria Rusticana debütierte. Mein Debüt in Brüssel war am 7. März und am 8. war die Generalprobe in München. Das war eine meiner Feuerproben… Aber das war erst der Anfang. Ich war nur zur Sicherheit auch für die Premiere im Theater. Alles ging gut und in der Mitte des vierten Aktes ging ich in meine Garderobe, um meine Jacke zu holen, da ich dachte, dass man mich sicher nicht mehr brauchen würde. Zum Glück habe ich mir Zeit gelassen, denn als der Akt zu Ende ging, erreichte mich der Anruf des Theaters. Mein Kollege konnte nicht weitersingen und im 5. Akt nur szenisch agieren. Ich sollte wie schon bei der Generalprobe von der Seite singen. Nur, dass es sich natürlich nicht mehr um eine geschlossene Probe handelte, sondern um die Premiere einer Neuinszenierung der vollständigen Fassung der Vêpres! Das Theater war ausverkauft und das “Who is Who” der Opernszene war anwesend. Und der fünfte Akt der Vespri beginnt mit einer sehr hohen und schweren Serenata! Ich hatte noch nicht einmal Zeit, mich einzusingen, der vierte Akt ging zu Ende und es gab keine Pause vor dem fünften. Eine Zeitung schrieb am nächsten Tag “in drei Minuten zum hohen C”, aber ich hatte sogar weniger als drei Minuten Zeit. Zum Glück ging alles gut und das Theater bat mich im Anschluss darum, alle Vorstellungen dieser Serie zu singen und lud mich für La bohème in der Spielzeit 2020/21 ein. Auch diese Spielzeit kam es wieder zu Einspringsituationen in letzter Minute: Als Gustavo in der Ballo-Premiere in Darmstadt und ich gab als Don José einspringenderweise mein Covent Garden Debüt!
Diese Spielzeit treten Sie aber auch ganz “regulär” als Don José in der neuen Carmen an der Oper Leipzig auf. Was können Sie und über die Inszenierung in Leipzig und die Rolle des Don José sagen? Mit der Oper Leipzig fühle ich mich besonders verbunden. Dort habe ich vor zwei Jahren in einer Neuproduktion von Turandot debütiert und seitdem trete ich regelmäßig dort auf, dieses Jahr sogar in einer weiteren Neuinszenierung, eben die von Ihnen erwähnte Carmen. Premiere war am 30. November 2018, ein großer Erfolg. Es handelt sich um eine sehr schöne Inszenierung, klassisch was das Bühnenbild, die Kostüme und die Beleuchtung angeht.
Die Regie an sich kann jedoch nicht als klassisch bezeichnet werden, da die Geschichte der Oper auf ein leider sehr aktuelles Thema bezogen wird, dem des Stalkings und des Mordes an Frauen. Don José ist eine meiner Lieblingsrollen. Von einem stimmlichen Gesichtspunkt her ist es, als ob man zwei Tenöre benötigen würde: Einen lyrischen für den ersten und zweiten und einen Lirico spinto für den dritten und vierten Akt. Man muss eine gewisse technische Kontrolle haben, auch um die sehr dramatischen Momente der letzten beiden Akte ausfüllen zu können. Darstellerisch ist es eine der interessantesten Rollen überhaupt. Die Entwicklung von Don José, von einem mehr oder weniger braven Jungen vom Land, der seiner Familie sehr verbunden ist zum gewaltbereiten Gesetzlosen, der sogar eine Frau tötet, lässt Platz für eine breite Palette an interpretatorischen Möglichkeiten. Ich liebe das Theater und zu spielen, mindestens so sehr wie die Musik. Deshalb gibt mir die Rolle so viel.
Was halten Sie vom deutschen Repertoiresystem verglichen mit dem “Stagione” System in Italien? Es ist eine Ehre, so viel in Deutschland auftreten zu dürfen und ich bin sehr glücklich darüber. Man arbeitet wirklich sehr gut hier!
Die Ordnung, die Organisation der Proben während einer Produktion, das freundliche Klima, das mir in jedem deutschen Theater, an dem ich bisher gearbeitet habe, entgegen schlug, haben immer dazu beigetragen, dass ich das Beste geben konnte.
Das deutsche Theatersystem sieht oft wenige Tage für Wiederaufnahmen vor und das kann manchmal ein Problem sein. Ich erinnere mich beispielsweise an eine “Carmen”, bei der ich ohne Orchesterprobe und ohne szenische Probe auftreten musste. Aber ich kann sagen, dass das für mich fast schon stimulierende Situationen sind. Ich bin es ja gewohnt einzuspringen. Bei Neuinszenierungen probt man hingegen fünf bis sechs Wochen. Das kann erst einmal sehr lang scheinen, aber da man eigentlich immer mit großer Präzision arbeitet, auch was die darstellerische Seite angeht, vergeht diese Zeit dann doch immer recht schnell. Ich denke, dass das deutsche System sowohl von einem künstlerischen Blickwinkel als auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet, sehr produktiv und effizient ist. Italien sollte meiner Meinung nach dieses System übernehmen, sowohl die Wiederaufnahmen von Repertoirewerken als auch das System der Ensembles.
Was sind Ihre drei Lieblingsrollen und warum? Es ist schwer, auf diese Frage zu antworten… Meine Lieblingsrolle ist immer die, die ich im Moment singe… Zweifellos sind es Rollen wie Don José, Cavaradossi oder Des Grieux in Manon Lescaut, die mir besonders nah sind. Aber es gibt auch viele Verdirollen, die ich liebe, wie zum Beispiel der Don Carlo! Eine Rolle, die Sie bereits gesungen haben, aber nie wieder singen werden. Der Conte d’Almaviva von Rossini. Ich habe diese Partie ein Mal gesungen und glaube, es gibt Leute, die immer noch darüber lachen! Das ist eine Rolle, die wirklich nicht zu meiner Stimme passt. Ich würde gerne den Werther von Massenet singen und denke, dass das eine Rolle ist, die einem Tenor, der einen Abschluss in Philosophie hat, besonders gut liegen sollte! (lacht) Eine Rolle, die ich gerne singen würde, aber wohl nicht singen werde ist der Duca di Mantova. Aber man sollte niemals nie sagen! Dieter Schaffensberger
Der Künstler versichert über seine Agentur, im Besitz der Abdrucksrechte der hier verwendeten Fotos zu sein.Foto oben:Leonardo Caimi/ Foto Gianluca Moro