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Bei unserem letzten Gespräch im Jahr 2015 hatten Sie gerade Ihre 100. Traviata gesungen. Wie viele Violettas sind es mittlerweile? Eine meiner Vorstellungen jetzt in Berlin war die 250., aber ich habe nach 200 Vorstellungen nicht mehr wirklich genau gezählt. (lacht)
Wie hat sich Ihr Blick auf Violetta und damit Ihre Interpretation dieser legendären Opernfigur in den letzten Jahren verändert? Ich habe Violetta mittlerweile in derselben Spielzeit wie Lucia gesungen, und jetzt diese Saison singe ich sie gleich nach der Mimì. In der nächsten Spielzeit kommt Amelia in „Simon Boccanegra“. Violetta ist meine stetige Begleiterin während meiner gesamten Reise durch verschiedenes Sopranrepertoire. Meine Interpretation von Violetta ändert sich nicht etwa jedes Jahr, sie ändert sich bei jeder Aufführung. Ich lebe eine derartige Symbiose mit dieser Figur, dass es sehr von meiner jeweiligen Stimmung abhängt. Wenn ich einen melancholischen Tag habe, werden sicher die melancholischen Seiten stärker betont, und wenn ich super gelaunt und fröhlich bin, ist der erste Akt brillanter. Aber ich habe da keinen Schaltplan. Ich kenne Violetta derart gut und ich liebe sie so sehr, dass ich mich einfach von dem Moment mitreißen lasse und wenn ich mich an einem Abend so fühle und an einem anderen Abend anders, dann gehört das einfach zum Leben eines Künstlers. Deshalb liebe ich sie so sehr, weil sie der Sängerin verschiedene Möglichkeiten bietet, in den verschiedenen Aspekten des Charakters dieser Figur sie selbst zu sein.
Was sind die größten Herausforderungen dieser Rolle? Ich werde nicht genauer auf die stimmlichen Ansprüche eingehen. Es ist stimmlich eine wirklich anspruchsvolle Rolle und um sich ihr zu stellen, braucht man ein sehr solides Fundament, man muss fast eine „Assoluta“ sein. Aber die eigentliche Herausforderung dieser Figur besteht darin, während der gesamten Aufführung intensiv zu sein. Intensiv, kohärent und überzeugend, denn es ist eine sehr intensive Rolle, die auf wirklich brillante Weise geschrieben ist. Jede Silbe, jedes Wort, jeder Ton bedeutet etwas und man darf sich nie ablenken lassen, nicht abschalten und man muss immer seine eigene Linie haben, vom ersten bis zum letzten Ton. Nicht einmal ein einziges Wort darf automatisch kommen, auch nach 250 Vorstellungen. Denn sie hat viele verschiedene Facetten. All ihre Stimmungen muss man durch die eigene Seele, das eigene Herz und die eigene Stimme ausdrücken. Ihrer Seele muss in jeder Sekunde, in jeder Silbe und in jedem Ton eine Stimme gegeben werden. Für mich ist genau das die eigentliche Herausforderung der Violetta.
2015 sagten Sie, dass Sie gerne Amina in „La sonnambula“, Elvira in „I puritani“ und die Titelrolle von „Anna Bolena“ singen würden. Wenn man Ihre Biografie liest, scheint es, als hätten Sie die letzten beiden gesungen. Gibt es einen Grund, warum es nicht zur Amina gekommen ist? Ja, seit 2015 habe ich viele Belcanto-Debüts gegeben. Einige Opern habe ich in verschiedenen Produktionen gesungen, etwa „L’elisir d’amore“ oder „I puritani“. Ich bin sehr glücklich, dass ich diese wunderschönen Stücke dieses Repertoires, das mir besonders am Herzen liegt gesungen habe. Nur die Amina in „La sonnambula“ habe ich tatsächlich nicht gesungen, und das wird vielleicht das sein, das ich in meiner Karriere am meisten bedauern werde. Aber sag niemals nie, oder?
Vor kurzem haben Sie Ihr Repertoire um Rollen wie Imogene in „Il pirata“ und Alice Ford in „Falstaff“ erweitert: War das ein erster Schritt in Richtung eines neuen Repertoires? Diese Debüts als Imogene in „Il pirata“ und Alice Ford in „Falstaff“ habe ich jeweils letztes Jahr gegeben, beide am Opernhaus Zürich. In „Falstaff“ hatte ich zuvor immer Nannetta gesungen. In der nächsten Saison werde ich mein Debüt als Amelia in „Simon Boccanegra“ geben. Ich sage es so: Ich ändere mein Repertoire nicht, sondern erweitere es und bin nun etwa auch endlich bereit, die Norma zu singen. In dieser Rolle würde ich furchtbar gerne debütieren und wir schauen schon, wo ich sie erstmals singen könnte.
Welche anderen Rollen würden Sie abgesehen von der Norma gerne singen? Abgesehen von der Norma fühle ich mich bereit für weitere Debüts im Belcanto-Fach, wie etwa „Roberto Devereux“, „Lucrezia Borgia“ und andere vielleicht weniger bekannte Werke. Ich habe mich sehr über „Il pirata“ gefreut, da dieses Stück absolut meiner stimmlichen und künstlerischen Persönlichkeit entspricht. Wenn wir von Verdi-Debüts sprechen, dann sprechen wir wie gesagt von meinem Debüt in „Simon Boccanegra“ dieses Jahr und die nächste Verdi-Rolle wäre dann sicher die Desdemona in „Otello“. Aber es gibt auch viele Rollen, die ich gerne in meinem Repertoire behalten würde, wie zum Beispiel einige französische Partien, zu denen ich gerne die Thaïs hinzufügen würde. Ich werde in der nächsten Saison mein Debüt als Nedda in „Pagliacci“ geben und dann schauen wir, wohin mich meine Stimme und mein künstlerischer Weg führen werden.
Erst im vergangenen März hatten Sie einen großen Erfolg als Mimì und Musetta in „La bohème“ an der Mailänder Scala und waren dabei die erste Sopranistin, die dort diese beiden Rollen in derselben Saison interpretiert hat. Was waren die größten Herausforderungen bei diesem Unterfangen? Es handelt sich um ein sowohl anregendes, als auch ungewöhnliches Projekt. Wenige andere Sopranistinnen haben in ihrer Karriere diese beiden Rollen in derselben Vorstellungsserie gesungen. Mein Konzept zu diesen beiden Frauen ist eine Art Austauschbarkeit der beiden Rollen. Die große Renata Scotto [die selbst Mimì und Musetta in derselben Serie an der Met gesungen hat] hat über Mimì und Musetta gesagt, dass es sich bei ihnen eigentlich um dieselbe Frau handelt, nur dass eine krank ist und die andere nicht. Und ich glaube, dass es sich wirklich um dieselbe Frau handeln könnte, in verschiedenen Lebensphasen, so wie auch ich in manchen Momenten meines Lebens Musetta und in anderen Mimì war. Ich verstehe also beide, ich liebe beide und könnte nicht auf eine von ihnen verzichten. Für mich stehen diese beide Rollen nicht im Konflikt miteinander. Es war eher eine Genugtuung und Erfüllung in künstlerischer Hinsicht als eine Herausforderung. So vielseitig und unterschiedlich sein zu können und in ein und derselben Produktion so interessante Impulse zu finden war einfach wunderbar.
Natürlich will ich nicht sagen, dass es gar keine Herausforderung ist, die beiden Rollen zu singen. Auch wenn man sie nicht zusammen in derselben Serie singt, handelt es sich nicht um zwei einfache Rollen und einfache Charaktere. Ich wollte gegen das Klischee ankämpfen, dass Musetta von einer bestimmten Art von Stimme und Mimì von einer anderen Art von Stimme gesungen werden muss. Weil die Glaubwürdigkeit der Charaktere nicht von der Art der Stimme abhängt. Beispielsweise kann Musettas Koketterie auch dann ausgedrückt werden, wenn sie keine Koloratursopranistin ist, so wie ich keine Koloratursopranistin bin. Diese beiden Charaktere stehen für Künstler mit Sensibilität nicht im Widerspruch.
Wo werden wir Sie in Zukunft auf der Bühne sehen können? Gleich nach „La traviata“ und „Rigoletto“ an der Berliner Staatsoper geht es für mich nach Florenz zum Maggio Musicale, wo ich Alice Ford in „Falstaff“ unter Daniele Gatti singen werde. Anschließend gebe ich mein Debüt am Teatro Colón in Buenos Aires als Fiorilla in „Il turco in Italia“, gefolgt von meinem Rollendebüt als Amelia Grimaldi in „Simon Boccanegra“ am New National Theatre Tokyo. Kommende Spielzeit singe ich außerdem mein erstes Verdi-Requiem in Angers und Nantes und habe verschiedene Projekte in Italien, unter anderem an der Mailänder Scala. Das Interview führte Beat Schmid (Foto oben: Irina Lungu als Bellinis Imogene im Konzert in Japan/ Foto Weiler)
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