Die Firma Oehms arbeitet sich an Walter Braunfels heran. Nach der weltweit ersten Einspielung des Konzertes für Orgel, Knabenchor und Orchester nun Orchestral Songs – und zwar mit Volume 1 (OC 1846) und Volume 2 (OC 1847) gleich zweifach. Dirigent ist wiederum Hansjörg Albrecht, der Künstlerische Leiter des Münchener Bach-Chores und Bach-Orchesters. Er gilt, um eine Zitat aus dem Booklet aufzugreifen, „als musikalischer Grenzgänger und Querdenker ohne Berührungsängste“. Für die Braunfels-Pflege sind das sehr gute Voraussetzungen. Albrecht ist in vielen Genres zu Hause. Er sang als Kind im Dresdner Kreuzchor, machte sich auch an der Orgel und am Cembalo einen Namen – ähnlich seinem berühmtester Vorgänger im Münchner Amt, Karl Richter.
Für die Einsielungen hat Albrecht mit Camilla Nylund, Valentina Farcas, Ricarda Merbeth, Genia Kühmeier und Michael Volle namhafte Solisten um sich geschart. Klaus Florian Vogt wurde extra bei Sony ausgeborgt. Sie bringen sich mit Hingabe ein. Beide Neuerscheinungen sind ein leidenschaftliches Plädoyer für Braunfelds, der vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten einer der erfolgreichsten Komponisten Deutschlands gewesen ist. Er stammt aus einer bürgerlichen Familie, in der Kunst und Musik einen hohen Stellenwert hatten. Sein Vater, der Jurist und Literaturwissenschaftler Ludwig Braunfels, trat vom Judentum zum evangelischen Glauben über, seine Mutter Helene Spohr war eine Großnichte des Komponisten Louis Spohr und mit Clara Schumann und Franz Liszt befreundet. Als so genannter Halbjude wurde Braunfels von 1933 an geächtet, als Direktor der Kölner Musikhochschule abgesetzt und ging in die innere Emigration. Nach 1945 erhielt sein Lehramt zurück, gab es allerdings schon 1950 wieder auf. Seilschaften aus Kollegen und Mitarbeiten, die während des Nationalsozialismus an der Hochschule verblieben waren, sollen ihm zugesetzt haben. Mit dreiundsiebzig Jahren ist er 1954 gestorben. Dann wurde es ruhig um ihn. Seine Werke galten als rückwärtsgewandt, als nicht mehr zeitgemäß. Erst in den 1990er Jahren wurde Walter Braunfels neu entdeckt.
Es gab und gibt viele erfolgreiche Versuche, Werke des Komponisten wieder in Spielplänen und Konzertprogrammen zu etablieren. Die Musikindustrie tut das Ihre – und wohl auch das Meiste. Die Angebote können sich sehen lassen. Oehms punktet mit einer sehr delikaten Auswahl. Der Oberbegriff für die Zusammenstellungen fällt mit Orchestral Songs allerdings nicht ganz treffend aus. Was geboten wird, ist nicht vergleichbar mit den Orchesterliedern des achtzehn Jahre älteren Zeitgenossen Richard Strauss, der diese Form zur Vollendung und damit an ihre Grenzen brachte. Braunfeld ist formal aufregender und aufwühlender, wenngleich es immer wieder Gemeinsamkeiten gibt. Oft sind beide Komponisten nicht weit voneinander entfernt. Besonders auffällig ist das bei der kurzen orchestralen Einleitung der Zwei Hölderlin-Gesänge – bestehend aus „An die Parzen“ und „Der Tod fürs Vaterland“ -, die während des Ersten Weltkriegs entstanden und eigene Erlebnisse des Soldaten Braunfelds reflektieren. Ganz aus der traditionellen Tonsprache kommt auch der Gesang Auf ein Soldatengrab nach Hermann Hesse, ebenfalls den Kriegsjahren zuzurechnen. „Deine hellen Augen sind zugetan, / Dir brach die Nacht herein, / Dir brach der neue Weltengang schon an.“ Wenngleich von dunklen Ahnungen erfüllt und in ihren Steigerungen etwas übertrieben, geht von der Musik letztlich eine tröstliche Botschaft aus. Der Protestant Braunfels kam verwundet aus dem Feld zurück und trat zum Katholizismus über. Michael Volle bringt musikalische Erfahrungen ein, die er auch mit Schoenberg oder Zemlinsky gesammelt hat. Sein Vortrag ist eindringlich und geht unter die Haut. Untergebracht sind diese Stücke auf der ersten CD.
Eigenwillig ist die Anordnung der einzelnen Titel, wodurch eine zusätzliche Botschaft vermittelt werden soll. Eingebettet sind die Kompositionen aus Kriegstagen in zwei Szenen, die 1913 für die Oper Die Vögel konzipiert wurden. Vorspiel und Prolog der Nachtigall trägt Valentina Farcas mit entzückender Leichtigkeit vor. Für den melancholischen Abschied vom Walde – in der Oper der Schlussgesang des Hoffegut – ist Klaus Florian Vogt mit seinem hellen jungenhaften Tenor richtig besetzt. Instrumental klingt die CD mit der Staatskapelle Weimar aus: Don Juan ist – so die Werkbezeichnung – Eine klassisch-romantische Phantasmagorie für großes Orchester über die im Deutschen so genannte Champagner-Arie aus Mozarts Don Giovanni. Obwohl Giovanni vom Wein singt, hält sich in Deutschland diese Bezeichnung hartnäckig für die berühmte Szene. Uraufgeführt wurde das Werk aus sieben Variationen desselben Themas am 13. November 1924 in Leipzig von Wilhelm Furtwängler, der es wenig später auch mit den Philharmonikern in Berlin spielte. Clemens Krauss und Fritz Busch folgten. Erst nach und nach stellte sich der Erfolg dieses tolldreisten Stückes mit einer breiten Ausdruckspalette ein, in dem es nur so vor Trugbildern und seltsamen Erscheinungen wimmelt. Phantasmagorie ist wörtlich zu verstehen.
Volume 2 wird vom Konzerthausorchester Berlin bestritten. Diesmal gibt es ausschließlich Vokalwerke aus verschiedenen Schaffensperioden, anfangen mit Die chinesischen Gesänge von 1914 (Camilla Nylund) bis hin zu Vier japanischen Gesängen von 1944 (Ricarda Merbeth). Sämtliche Nachdichtungen stammen von Hans Bethge, der schon die literarische Vorlage für Mahlers Lied von der Erde lieferte. Seine Sprachmelodie hat zahlreiche Komponisten inspiriert. Wikipedia spricht von insgesamt 180, erwähnt aber Braunfels bei den Beispielen nicht. Die Nylund ist zudem bei den sehnsuchtvollen Romantischen Gesängen besetzt, für die sich Braunfeld Gedichte von Clemens von Brentano und Joseph von Eichendorff gewählt hat. Auf Gedichte der Mystikerin Mechthild von Magdeburg wird bei dem Gesang Die Gott minnende Seele zurückgegriffen (Genia Kühmeier). In der Szene Der Tod der Kleopatra für Sopran und Orchester nach William Shakespeare ist nochmals die Merbeth zu hören. Alle drei Solistinnen sind ziemlich genau auf dem Wort, was den Zugang ernorm erleichtert. Zur vertieften Beschäftigung regen zudem die Texte selbst an, die allesamt in den Booklets abgedruckt sind.
Was für alle diese Werke gilt, hat Eva Gesine Baur im Booklet auf folgenden Nenner gebracht: „Der Romantiker war und ist immer Experte für Weltfluchten, die ihn retten, sei es eine Flucht in die Vergangenheit, bei der deutschen Romantik in die Welt des Mittelalters, oder in die Vision einer besseren Zukunft.“ (Foto oben: „Der Denker“/ Auguste Rodin/ Alte Nationalgallerie Berlin/ Foto Winter) Sebastian Sternberg
Und in diesem Zusammenhang der Dirigent der Aufnahmen, Hansjörg Albrecht, Im Gespräch mit Christine Mannhardt: Aktuell haben Sie bei Oehms Classics Walter Braunfels‘ Orchesterlieder auf zwei CDs eingespielt – einige der Lieder haben Sie regelrecht „ausgegraben“. Schon 2012 hatten Sie eine Braunfels-Aufnahme mit Ersteinspielungen initiiert und geleitet. Warum ausgerechnet Braunfels? Weil Walter Braunfels zum einen ein hochspannender und äußerst facettenreicher Komponist ist und es mehr als verdient hat, dass seine Musik endlich wiederentdeckt und möglichst umfangreich aufgeführt wird und zum anderen, weil mich die Verbindung der Brüche in seiner Vita – im Verhältnis zu seiner Entwicklung als Komponist und seiner Musiksprache – nachhaltig beeindrucken und faszinieren. Und dies natürlich vor dem Hintergrund speziell unserer eigenen (deutschen) Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zudem ist Braunfels sehr eklektisch in der Art und Weise, wie er mit Musik umgeht und komponiert hat – das kommt meinem Naturell als Musiker sehr entgegen.
Warum war Braunfels‘ Musik denn so lange vergessen? Sind seine Orchesterlieder nicht doch mehr in der Konvention verhaftet als etwa jene von Richard Strauss? Dass Braunfels‘ Lieder in der Konvention verhaftet sind, sehe ich so ganz und gar nicht. Sie sind äußerst vielgestaltig und wandelbar, aber natürlich sind sie allesamt „Kinder“ ihrer Entstehungszeit, also Früchte der Spätromantik. Braunfels war von Wagner und Berlioz „infiziert“ – und das hört man auch in seinen frühen Werken. Aber er hat beispielsweise kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges den Liederzyklus „Drei Chinesische Gesänge“ (für Sopran und großes Orchester) komponiert. Da meint man heute eine Ähnlichkeit zu den „Vier letzten Liedern“ von Strauss zu hören, die aber erst 35 Jahre später entstanden… Wenn man überhaupt den Vergleich „Strauss-Braunfels“ anstellen möchte, so muss man erkennen, dass beide sich gar nicht so unähnlich waren. So wie Braunfels in letzter Konsequenz nicht den Schritt zur Zwölfton-Musik ging, tat es auch Strauss nicht, obwohl beide in einigen ihrer Werke bis an die Grenzen der Tonalität vorstießen. Der große Unterschied ist nur, dass Braunfels als sogenannter „Halbjude“ ab 1933 verstummen musste, während die Musik von Strauss weiterleben konnte und Strauss die Möglichkeit intensiv genutzt hat, seine Musik am Leben zu erhalten und sie auch gekonnt zu vermarkten.
Die Versuche des jungen Kölner GMD Günter Wand, dem von ihm geschätzten Walter Braunfels mit Ur- und Wiederaufführungen seiner Werke nach dem Krieg wieder ins Musikleben zurück zu verhelfen, scheiterten letztendlich an den verheerenden geistigen Folgen des 2. Weltkrieges: dem Bruch mit der Romantik (der Suche nach Schönheit), der neuen Sachlichkeit und den neuen Konventionen der sogenannten Darmstädter Schule.
Glücklicherweise dreht sich die Welt weiter und Moden kommen und gehen. Und so ist seit Ende des letzten Jahrtausends wieder Raum für die Wiederentdeckung vieler Komponisten – z.B. eben neben Alexander von Zemlinsky, Erich Wolfgang Korngold und Franz Schreker auch Walter Braunfels.
Wie schwierig war es, Geldgeber und künstlerische Mitstreiter für das ambitionierte Projekt zu finden? Schließlich haben Sie u.a. mit Camilla Nylund, Ricarda Merbeth, Michael Volle oder Klaus Florian Vogt die Crème de la Crème des Operngesangs gewinnen können und zwei renommierte Orchester dazu. Die geeigneten Mitstreiter für dieses Projekt zu finden, war gar nicht so schwierig, denn glücklicherweise verbindet mich schon seit Jahren eine wunderschöne, vielfältige Zusammenarbeit mit sehr renommierten Sängerinnen und Sängern. Viel komplizierter war es, die zeitlichen Verfügbarkeiten aller Beteiligten „übereinander“ zu bringen. Diesem Projekt wurde von Anfang an viel Sympathie entgegengebracht – was natürlich nicht vorauszusagen war, was ich aber in der Rückbetrachtung der Schönheit der Musik und der Neugierde und Offenheit der beteiligten Künstler und Orchester zuschreiben möchte. Dass dieses Aufnahmeprojekt so stattgefunden hat, macht mich sehr glücklich.
Nun ist die Wiederentdeckung vergessener Komponisten – 2014 erschien z.B. auch Ihre vielbeachtete CD mit Musik des Mahler-Zeitgenossen Hans Rott – nicht Ihr eigentlicher Hauptberuf. Ihr Münchner Publikum schätzt Sie als Dirigent des von Karl Richter gegründeten Bach-Chors und –Orchesters, daneben sind Sie regelmäßig mit ausgewählten Konzertprojekten u.a. in Hamburg und Neapel (Opernhaus San Carlo) zu Gast. Aber auch das beschreibt nur einen Bruchteil Ihres Betätigungsfelds: Sie arbeiten als Dirigent mit internationalen Orchestern zusammen, gastieren als Konzertorganist mit ihren Orgeltranskriptionen in den großen Kathedralen und Konzertsälen im In- und Ausland, leiten Meisterklassen mit Konzertprojekten für Sänger, Chöre und Orchester (aktuell am Salzburger Mozarteum), sind Partner bei ausgewählten Sängern in Liederabenden, beschäftigen sich mit historischer Aufführungspraxis und neuer Musik. Erfordert der heutige Musikbetrieb nicht die Spezialisierung? Gegenfrage: Warum erfordert der heutige Musikmarkt eine Spezialisierung? Die Erklärung ist natürlich schnell parat: Man konzentriert sich auf eine Sache und hat damit (vermeintlich schnell) Erfolg.
Bei der Beschäftigung mit Musik und Kunst sollte es – meiner Meinung nach – aber um weit mehr gehen, als darum, einen einstudierten, schmalen Kanon von Werken Jahrzehnte lang weltweit aufzuführen. Es sollte um die möglichst vollständige Durchdringung der Materie gehen – und da beeinflussen sich einfach viele Dinge gegenseitig.
Mein Paradebeispiel eines Universalmusikers ist Leonard Bernstein. Der war komplett durchdrungen von Musik und gab diese Leidenschaft weiter als Dirigent, Komponist, Pianist (solistisch, mit Orchester, als Kammermusiker und Liedbegleiter), Musikvermittler (mit besonderen Konzert- oder Musikeinführungsformaten) sowie als Orchestererzieher bei Jugendorchestern auf Festivals. Daneben schrieb er Texte, Essays etc. Über das vielfältige Wirken „Lennys“ (der übrigens mit Karl Richter eng befreundet war und das Gedenkkonzert zu dessen Tod mit dem Münchener Bach-Chor und Bach-Orchester 1981 dirigierte) mag man geteilter Meinung sein. Mich aber fasziniert dieser Vollblutmusiker bis heute in seinem ungestümen, vollumfänglichen internationalen Wirken für das Universum Musik.
Um es abschließend in einem Satz zu sagen: Ich bin ein aufgeschlossener und neugieriger Musiker, dem es äußerst wichtig ist, dass scheinbar gegensätzliche Berufserfahrungen ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen.
Verraten Sie uns etwas über Ihre nächsten Pläne und Entdeckungs-reisen? Momentan investiere ich viel Zeit in die Erarbeitung und Aufführung von Meisterwerken wie Schumanns „Paradies und die Peri“, Brittens „War-Requiem“ sowie die Weiterführung meiner Wagner-Pèlerinage (gerade letzte Woche dirigierte ich bei der Staatskapelle Weimar Lorin Maazels Orchesterfassung von Wagners „Ring ohne Worte“, welche 2017 als CD erscheinen wird). Neben geplanten Konzertprojekten u.a. in Russland, Holland, Mexico, Italien, Tschechien und der Schweiz sind es vor allem eine ausgedehnte Japan-Tournee mit dem Münchener Bach-Orchester, die Leitung der Wiederaufnahme einer Serie von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ (in der Inszenierung von Giorgio Strehler) am Opernhaus San Carlo, Neapel sowie Konzerte in der neuen Hamburger Elbphilharmonie und der Berliner Philharmonie, auf die ich mich besonders freue.
Wenn Ihnen eine Fee oder ein Sponsor unbegrenzte Mittel für ein musikalisches Projekt zur Verfügung stellen würde – was würden Sie damit machen? Eine Gesamteinspielung aller Opern, Orchesterwerke, Zyklen und Konzerte des Spätromantikers Walter Braunfels sowie ausgewählter Opern des nach wie vor noch viel zu unterschätzen Christoph Willibald v. Gluck. Christine Mannhardt