Enrico C. zum Hundertsten

 

Mit  der  Zeitmaschine herab in den tiefen Brunnen der Vergangenheit, zurück ins Teatro alla Scala am 17. Februar 1901, in eine Auführung von Gaetano Donizettis „L’Elisir d’amore“. Dem Beifall des Publikums gehorchend,  erlaubt der sonst unnachgiebige  Arturo Toscanini seinem Tenor zwei Dacapos der Romanze „Una furtiva lagrima“. Gleich nach der Aufführung  sagt er hingerissen: „Per Dio! Se questo Napoletano continua à cantare così, farà parlare di se il mondo intero!   Bei Gott! Wenn dieser Neapolitaner weiter so singt, wird die ganze Welt über ihn reden“.

Ein Jahr später, am 11. April 1902, steht der Sänger im Mailänder Grand Hotel vor dem Trichter: Enrico Caruso. Mit seinen ersten zehn Platten sichert er dem Grammophon die Würde eines Instruments und sorgt für einen epochalen Wandlungsprozess in der Wahrnehmung von Musik. „He made the gramophone“, sagte Fred Gaisberg, der ihn für die Platte entdeckt hatte – und vice versa: das Grammophon machte ihn und sorgte dafür, dass er bis heute, hundert Jahre nach seinem Tod, wie Luciano Pavarotti bekannte, das Vorbild aller italienischen Tenöre“ geblieben ist.

Enrico Caruso vor einem Phonographen mit seiner Aufnahme in der Hand/ Wikipedia

Warum ER und nicht einer der vielen, die alsbald, im Sog seines Erfolges,  ihre ersten Platten machten: der damals als „la gloria d’Italia“ verehrte  Fernando de Lucia; der durch die Uraufführung des „Otello“ berühmte Francesco Tamagno; der von Connaisseurs  wegen seiner virtuosen Eleganz  bewunderte Alessandro Bonci; oder der als „tenore delle donne“ angehimmelte  Giuseppe Anselmi  – um nur vier aus einer Garde exzellenter oder sehr guter  Tenöre zu nennen, deren Platten erst durch die Archäologie des CD-Zeitalters wiederentdeckt wurden. Noch einmal: Warum ER und auch nicht einer seiner direkten Nachfolger wie der goldgänzende Benjamino Gigli oder der feurige Giovanni Martinelli? Oder später ein Tribun wie Mario del Monaco?

Wahrscheinlich deshalb, weil sie sich am Unnachahmlichen versuchten. Bevor Caruso kam, bemerkte der Komponist Sydney Homer, Ehemann der Altistin Louise Homer, einer oftmaligen Partnerin des Tenors, „war ich nie einer Stimme begegnet, die der seinen auch nur entfernt ähnelte, und nach ihm habe ich Stimme um Stimme gehört, große und kleine, hoch liegende und tiefe, die sich seiner Stimme, oft gewaltsam, anzugleichen versuchten“. Es war jedoch, wie später auch bei Mario del Monaco oder  Giuseppe di Stefano,  Richard Tucker  oder Plácido Domingo mehr als nur der Versuch einer Angleichung der Stimme als vielmehr die Nachahmung der Manier.

Caruso singt „Vesti la giubba“/ „I pagliacci“/ Victrola Book of the Opera

Caruso hatte seine Karriere im Verlauf einer Zeitenwende begonnen: des Übergangs von der Musik der Romantik (Bellini und Donizetti)  und Verdis hin zur  veristischen Oper. Deren Siegeszug hatte1891 und 1892 mit den Uraufführungen von Pietro Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ und Ruggero Leoncavallos „Pagliacci“ begonnen. In den ersten zwei Jahren seiner Laufbahn hat Caruso zwar  belcantische Partien wie Elvino („La Sonnambula“), Arturo („I Puritani“) gesungen  – wenn auch sehr selten und wegen seiner damals noch nicht sicher plazierten Höhe transponiert – ,  aber  sein Stil, oder seine vokale Manier, wurde geprägt durch die Musik des mittleren Verdi, von Ponchielli, Mascagni, Leoncavallo und Cilea. Es war nach der Uraufführung von „Fedora“ (27. November 1897) –   mit der Show-Stopper Arie „Amor ti vieta“ –,  dass  die Verträge auf ihn „niederprasselten wie ein Platzregen“ (Caruso). Der Klangstrom seiner Aufnahme (30. November 1902) zeigt, wie er eine klassisch geformte Belcanto-Kantilene mit der Leidenschaft der maniera verista durchglüht.

Dank der Zeitmaschine herauf in die Gegenwart: „Una furtiva lagrima“, aufgenommen 1. Februar 1904 im Room 826 der Carnegie Hall. In fünf Minuten und 22 Sekunden ist der Wandel des Singens zu erleben:  wie sich das Dekor des belcantischen Gesangs mit der Affekt-Gestik der maniera verista verbindet. Da betritt ein Nemorino die Klangbühne, der berauscht ist vom unverhofften Liebesglück, der in jedem Ton, in jeder Arabeske, in jeder Phrase in dem Gefühl aufgeht:   „Verweile doch, du bist so schön“.  Das wirkt sich aus auf die Sing-Zeit: Sie ist etwa eine Minute länger als bei allen anderen (52 wurden zum Vergleich herangezogen.)

Caruso intoniert den Beginn – das F auf „Una“ – mit kosender Halbstimme und wirkt am Ende der ersten Phrasengruppe – Belcanto pur – eine Arabeske ein. Das Ges am Ende von „che più cercando io vo“ lässt er mit einer Messa di voce aufblühen und geht auf einem Atem über in das emphatische „M’ama“ („sie liebt mich“), bevor er die Phrase („lo vedo“) selig-zeitvergessen pianissimo ausklingen lässt. Nur ein virtuos-selbstgefälliger Effekt? Nein, in der vokalen Geste offen-bart sich „das innerste Wesen der menschlichen Gebärde“.

Caruso mit Emmy Destin in „La Fanciulla del West“ an der Met/ Met Opera Archives

In dem Moment, in dem Nemorino vor Seligkeit meint sterben zu können, wechselt das Largetto nach B-Dur: „Cielo! Si può morir.“ („Himmel! Ich könnte sterben“). Wieder durchwirkt Caruso etliche Phrasen mit zarten Arabesken und dehnt sie durch subtile Rubati. Endlich die Kadenz, der Ort für die Entfaltung sängerischer Phantasie: in der Partitur nur ein Takt vorgesehen, ein Koloratur-Melisma aus 24 Noten, auf einem Atem zu bilden. Caruso interpoliert vor der Kadenz ein hohes B, dehnt es durch eine messa di voce und reiht in der Koloraturkette (auf „chiedo“) die Töne wie Perlen auf eine Seiden-schnur. Das letzte Wort der finalen Phrase „si può morir d‘amor“ beginnt er mit einem gewaltigen Crescendo, das er nach einigen Sekunden durch ein rasches Vibrato aufflackern lässt wie ein Feuer durch einen Windstoß.   Vollendung des Belcanto und Ende des Belcanto.  Es gibt, wie einige Connaisseurs sagen, keine schönere Tenor-Platte.

Die Kadenz! Die von Caruso war nur eine von mehreren Varianten, die damals in Gebrauch waren und auch auf Platten zu hören sind.  Aber in mehr als 200  späteren Aufnahmen ist, wie Will Crutchfield dokumentiert hat,  nur die Caruso-Kadenz zu hören  (mit vier Ausnahmen); so, wie alle „Rigoletto“-Herzöge die Ballata „Questa o quella“ mit den gleichen Akzenten und die Kanzone „La donna è mobile“ mit derselben Koloratur-Kadenz wie Caruso singen; oder wie alle Sänger vom Leid des Canio in „Pagliacci“ mit dem Caruso-„Schluchzer“ künden. Das Lamento „Recitar … vesti la giubba“ hat Caruso drei Mal aufgenommen.  Mit der Version  vom 17. März 1907 hat er seine akustische Signatur hinterlassen. Die Majestas der Klangentladung in der auf einem Atem gesungenden klimaktischen Phrase „sul tuo amore infranto“ ist unnachahmlich;  aber ein Echo haben das Verzweiflungslachen und der Schluchzer am Ende vor „il cor“ gefunden.

Schluchzer? Bei Caruso  ist es das Atemfassen eines vor Schmerz Erstickenden. Benjamino Gigli ließ den seufzer-durchsetzen Klagegesang in ein antikisches Heldenjammergeschrei ausgehen, das er im Nachspiel, hysterisch das Wort „infamia“ stammelnd, fortsetzte. Diese Singhiozzo– (Seufzer)-Manier – die naturalistische Imitation des  Affekts –  ist später auch bei Mario del Monaco zu erleben, der schon die letzte Phrase „il cor“ wie Jammerlaute stammelt. Dass er in der klimaktischen Phrase „sul tuo amore – infranto“ einen Zwischenatmer braucht, erklärt sich wiederum aus dem Versuch einer Imitatio: mit maximaler Klangausladung zu singen, ohne Rücksicht auf die Phrasierung.  Wie bei ihm und vielen Nachfolgern wurde aus dem Affekt ein Effekt – Wirkung ohne Ursache.

Caruso als Radamès/Mishkin/ Victrola Book of Opera/Broadway Photographs

Es gibt eine zweite Antwort auf die Frage: Warum ER? Es ist die Stimme selber.  Sie ist, über den ganzen Zwei-Oktaven-Umfang hin bis zum hohen H, einzigartig: rund, voll, farbenreich und farbenecht auf allen Vokalen, dynamisch flexibel, sonor in der unteren Oktave, schimmernd in der Höhe. Ob der Spontaneität seines Singens sprach die Sopranistin Luisa Tetrazzini von der „impertinenza, mit er seine vollen und gerundeten Töne verströmte.  Die in den Aufnahmen von 1902 bewahrte Stimme des 29jährigen ist ein heller, samtig-weicher und schimmernd-schöner Tenor.  Das Timbre wurde – mit einer oxymoronischen Metapher – als „geschmolzenes Gold in einem  Man-tel aus  Samt“ beschrieben. In der Region direkt über dem Passaggio – des Übergangs von der Bruststimme in die hohe Lage – ist zu spüren, dass er sich nicht immer sicher war, ob er ein G oder ein A offen oder gedeckt (abgedunkelt) singen sollte. Aber schon die ersten amerikanischen Aufnahmen von 1904 und 1905 zeigen, dass ihm alle  Mittel  zur Verfügung standen: der sanft-süße und üppige Klang, die  geschmeidige Führung, das Ebenmaß der Linie, die Ökonomie des Atems, die weitgespannten Abstufungen der Dynamik und die geschmeidigen Lagenwechsel – ohne jeden „Overdrive“ beim Übergang in die hohe Lage.

Caruso und Frieda Hempel in „L´Elisir d´amore“ an der Met/ Victrola Book of Opera

Anders als viele Tenöre der letzten Jahrzehnte  stemmt Caruso keine breit geschlagenen Töne in die Region nördlich des Passaggio, sondern bildet sie in schlanker  Fassung. Graphisch dargestellt: die Klangsäule gleicht nicht aufgetürmten Quadern, sondern einer sich sanft verjüngenden Säule. Was die Dynamik angeht, so kann er ein intensiv-klangreiches Piano ausströmen lassen und  ein durchdringendes Forte bilden. Dass der Umfang der Stimme – der Vollstimme – in der hohen Lage  mit dem H an seine Grenze gelangte, lag an ihrer dunklen Klangstruktur. Aber er fand auch die Mittel, die Stimme der Musik fügsam zu machen, und nicht umkehrt.

Zu erleben ist dies in vier Aufnahmen vom 11. Februar 1906. Diese Aufnahmen sind einzigartige Dokumente sängerischer Kunst insofern, als sie die Interdependenz von Musik und Technik als Voraussetzung für Stil demonstrieren.  Für Manricos Stretta aus „Il Trovatore“ wählt Caruso einen männlich-dunklen Klang, mit dem kein leuchtend-offenes „do di petto“ wie das etwa von Jussi Björling erreichbar ist. Er begnügt sich – auf „o teco“ und „l´armi“– mit dem hohen H.  Auch in Rodolfos „Che gelida manina“ wählt er für die klimaktische Phrase statt des C das H, wie es ihm von Puccini zugestanden worden war.

Unentbehrlich für Sammler sind die von Ward Marston restauirerten Aufnahmen Carusos bei Naxos (12 CDs 8101201)

In den  Aufnahmen von Fernandos „Spirto gentil“ aus Donizettis „La Favorita“ ist der elegische Klang einer Viola d’amore zu hören, in Fausts „Salut, demeutre chaste et pure“ ein weicher Oboen-Klang. Die ersten drei Phrasen der Donizetti-Arie bindet er, mit sanfter Mezza voce und lückenlosem Legato, auf einem Atem. Das hohe C trifft er blitzartig im Zentrum und lässt es anschwellen. Beim C in Fausts Arie (auf „divine la pré-sence“) setzt er mit der voix mixte ein und lässt den Ton crescendieren. Es gibt viele andere Beispiele, wie er die Kopfstimme oder das Falsett für delikate Nuancierungen gebraucht.

Wie zauberhaft seine voix mixte in Nadirs „Je crois entendre encore“ aus Bizets „Perlenfischern“ oder im Final-Duett aus „Aida“;  und dass ein Falsett nicht effeminiert oder gesäuselt klingen muss, zeigt die Auf-nahme von Assads Arie „Magiche note“ aus Goldmarks „Königin von Saba“.

Der Autor: Jürgen Kesting/ OBA 

Der Versuch einer letzten Antwort auf die Frage: Warum ER? Dass Giacomo Puccini bei ersten Begegnung mit dem 24jährigen Caruso mehr hörte als die Pracht der Stimme, spricht aus seinem Ausruf: „Wer hat DICH geschickt? Gott?!“  Wie ähnlich ein Satz von Richard Strauss: „Er singt die Seele der Melodie.“  Es war ein inneres Ohr, mit dem sie Carusos in der Klangfärbung sich offenbarendes Gefühl für Schönheit hörten – Schönheit als Offenbarung des Geistigen oder Seelischen. In den 250 Platten, die, von Ward Marston (für Naxos) meisterhaft restauriert, ist in jeder Phrase, ja in der Färbung jedes Tons zu erleben und zu erleiden, dass er begnadet und gesegnet war mit allen Freuden, den unendlichen, und geschlagen und gequält von allen Schmerzen, den unendlichen. Bewundert wird in ihm der Orpheus des 20. Jahrhunderts.  Jürgen Kesting

 

Den Artikel übernahmen wir mit großem Dank an den renommierten Musikjournalisten und Stimmenfachmann par excellence, Jürgen Kesting, dessen Hommage an Caruso in  der Zeitschrift FAZ vom 2. August 2021 erstmals erschien.