David Devriès

 

Und nun ein Exkurs über eine der schönsten lyrischen Tenorstimmen des französischen Repertoirs, die in ihrer Süße und Ausdruckskraft ihres gleichen sucht und die bis heute als Maßstab für Interpretation und Diktion gelten kann. Zugegeben: Selbst unter eingefleischten Melomanen werden heute nur mehr die wenigsten etwas mit dem Namen David Devriès anfangen können. Dies liegt zum einen daran, dass Devriès seit über 80 Jahren tot ist, zum anderen aber wohl auch am Niedergang des alten französischen Gesangsstiles, der heutzutage als praktisch ausgestorben gilt. Da die Anhängerschaft desselben stetig kleiner wird, schwindet auch das Wissen um seine großen Repräsentanten. Dies ist überaus bedauerlich, doch liegt es an uns, dem entgegenzusteuern.

Elegant und sexy: Daniel Devriès/ OBA

Es gilt hier zunächst etwas auszuholen. Bei der Familie Devriès handelt es sich um eine wahrhaftige Sängerdynastie, die ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte. Ursprünglich aus Holland stammend, darf die Sopranistin Rosa de Vries-van Os (1828-1889) als Stammmutter des Hauses gelten. Die in Den Haag geborene Sängerin machte sich vor allem am Théâtre d’Orléans im amerikanischen New Orleans, Louisiana, einen Namen. Sie sang auch in Kanada und Italien und starb schließlich in Rom. Ihre vier Kinder (alle in Amerika geboren) brachten es zu beachtlichen Gesangskarrieren. Die ältere Tochter Jeanne Devriès (1850-1924) wurde eine berühmte Sopranistin, die sich insbesondere in Paris einen Namen machte und 1875 den Tenor Étienne Dereims (1845-1904) heiratete. Die jüngere Tochter Fidès Devriès (1851-1941), ebenso Sopran, hatte ihren Schwerpunkt gleichfalls in der französischen Hauptstadt und war u. a. 1887 die Elsa in der Pariser Erstaufführung des Lohengrin. Der Bassbariton Hermann Devriès (1858-1949) etablierte sich besonders in den USA, fungierte nach seiner aktiven Gesangskarriere als einflussreicher Musikkritiker in Chicago und betätigte sich auch als Komponist. Maurice Devriès (1854-1919) schließlich, seines Zeichens Bariton, konnte ebenfalls eine glanzvolle internationale Karriere vorweisen, ehe er sich in Chicago als Gesangslehrer niederließ. Er war der Vater von David Devriès, mit dem die Familie schließlich auch einen großen Tenor hervorbrachte.

Daniel Devriès als Jean in Massenets Oper „Le Jongleur de Notre-Dâme“/ operas.org

Am 15. Februar 1881 im okzitanischen Bagnères-de-Luchon in den Pyrenäen nahe der französisch-spanischen Grenze geboren, erfolgte David Devriès‘ Ausbildung bei Lhérie und Duvernoy am Pariser Konservatorium. An seinem zwanzigsten Geburtstag debütierte er, noch während seiner Ausbildung, in einer kleinen Nebenrolle in der Uraufführung der Oper Astarte von Xavier Leroux an der Opéra-Comique in Paris. Sein eigentliches Debüt erfolgte drei Jahre später am selben Hause in Delibes‘ Lakme als Gérald. Ebenfalls 1904 sang er dort bereits den Belmonte sowie den Fischer in Guillaume Tell. In den nächsten zwei Jahrzehnten blieb die Opéra-Comique sein Stammhaus, an dem er in weiteren Uraufführungen von Opern der Komponisten Camille Erlanger, Henri Février, Gustave Doret sowie der Gebrüder Hillemacher mitwirkte. Den vielleicht größten Erfolg seiner Karriere konnte er bereits 1909 als Georges Brown in Boieldieus La Dame blanche feiern. Gastspiele führten ihn nach New York (Manhattan Opera), London (Covent Garden), Monte Carlo und Brüssel (La Monnaie). Seine künstlerische Heimat blieb indes Paris, wo er auch am Théâtre Gaîte Lyrique zu hören war. Zu seinen weiteren großen Rollen gehörten der Jean in Le Jongleur de Notre-Dame von Massenet, der Ange Ange-Pitou in La Fille de Madame Angot von Charles Lecocq, der Ägisth in Elektra und der Narraboth in Salome von Richard Strauss, Graf Almaviva im Barbiere di Siviglia, der José in Carmen, der Pinkerton in Madama Butterfly, der Rodolfo in La Bohème, der Cavaradossi in Tosca und der Alfredo in La Traviata.

Daniel Devriès als Don José/ forgottenoperas.blogspot.com

Besonders in den Opern von Jules Massenet brillierte Devriès, so auch als Armand in Thérèse, Jean-Gaussin in Sapho, Araquil in La Navarraise und gerade auch als Werther im gleichnamigen Werk. Er trat auch als geschätzter Oratorien- und Konzertsänger in Erscheinung, so in den Passionen und in der h-Moll-Messe von Bach, in La Damnation de Faust und L’Enfance du Christ von Berlioz sowie in Beethovens neunter Sinfonie. David Devriès starb am 3. Juni 1934 in Neuilly bei Paris im Alter von gerade 53 Jahren. Sein Sohn Ivan Devriès (1909-1997) betätigte sich als Komponist.

Der Autor: der frischpromovierte Historiker Daniel Hauser, lebt in Wien. Glückwünsche!

David Devriès‘ eleganter Stil mit einem charakteristischen, süßen Tonfall, verbunden mit vorbildlicher Stimmbildung und außerordentlicher Flexibilität, macht ihn zu einem Musterbeispiel eines ténor-légère der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Akustische Aufnahmen erfolgten bereits ab 1904 zunächst für Pathé und Victor. Zwischen 1927 und 1931 entstanden elektrische Schallplattenaufnahmen für Odeon. Diese Tondokumente berücksichtigen die Komponisten Boieldieu, Massenet, Messager, Leroux, Bizet, Gounod, Lalo, Lecocq, Fauré, Verdi, Léhar, Hahn und Nérini. Sie sind Zeugnis einer der beeindruckendsten lyrischen Tenorstimmen der altfranzösischen Schule. Auf CD sind sie digitalisiert beim Label Symposium erschienen (Symposium 1220). Daniel Hauser