Anna de Cavalieri

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„Ganz persönlich“:   In unserer Serie über weitgehend vergessene Sänger erinnern wir an uns wichtige Personen, die oft nur wenige oder keine Spuren hinterlassen haben, die aber für ihre Zeit und für den Fortbestand von Oper und Konzert so immens wichtig gewesen sind. Es waren und sind ja nicht allein die Stars, die die Oper am Laufen halten, sondern die Sänger der Nebenrollen und Komparsen, auch die Provinzsänger, die Diven und Heroen aus den kleineren Orten, wo Musik eine ganz andere Rolle spielte als hochgehypt in den großen Städten. Vor allem vor dem Krieg, aber auch in den Fünfzigern und Sechzigern hatte allein in Deutschland jedes der 36 und mehr Theater seine eigene Primadonna, seinen Haustenor und  langlebigen Bariton, die von der Operette bis zu Mozart und Wagner alles sangen. Das macht Oper aus. Nicht (oder nicht nur) die Auftritte der umjubelten Stars.

„Ah si la liberté“ ist eine jener unvergesslichen Arien aus Armide, die mir als Dauerohrwurm im Kopf hängen blieb, als ich neulich meinen Gluck-Bestand durchforstete. Viele haben diese Arie gesungen, natürlich Frida Leider unvergleichlich, aber eben auch Anna De Cavalieri auf der RAI-Aufnahme von 1958 unter Mario Rossi, der sich wie wenige andere italienischen Kollegen auch um das französiche Fach kümmerte. Die Cavalieri – sie wäre im Juli 2016 neunzig geworden – ist hier in Bestform zu hören, lockend aber auch kühl, versprechend aber auch definitiv, fraulich und doch auch amorph – viele Aspekte dieser schillernden Figur sind in ihrer Stimme auf der Aufnahme (Fiori FI-1040) abzuhören – was für eine Bandbreite hatte diese Sängerin, die eigentlich aus Amerika kam und für lange Zeit das Nachkriegsitalien mit ihrer aufregenden Sopranstimme ungemeiner Leistungsfähigkeit beherrschte. Ihre Hinterlassenschaft ist beeindruckend – aber eben „nur“ im Livebereich, ob nun als Elena in Boitos Mefistofele, als Loreley Catalanis, ob in Opern von Verdi (namentlich im Trovatore mit Labo`) oder Respighi (2 x Lucrezia), sogar als Bellinis Imogene ist sie von der RAI überliefert, wenngleich ihre Stärke wohl auch im zeitgenössischen Opernfach lag.  Deshalb ist es uns ein Bedürfnis, angesichts der reichlicher Dokumente bei Fiori, Myto oder Bongiovanni, an diese bedeutende Interpretin zu erinnern.

Anna De Cavalieri als Maddalena neben Mario Del Monaco/ "Andrea Chénier"/ operaclick

Anna De Cavalieri als Maddalena neben Mario Del Monaco/ „Andrea Chénier“/ operaclick

Kenntnisreichen Opernfans ist der Name der bedeutenden Sopranistin der Nachkriegszeit, Anna de Cavalieri, natürlich ein Begriff. Die amerikanische Sängerin (24 Juli 1926 – 29 August 2012) mit dem italienischen Künstlernamen lebte – hochbetagt – in Lugano. Sie war viele Jahre mit dem amerikanischen Bariton Fred Rogosin verheiratet. In den Fünfzigern und Sechzigern zählte sie wie Clara Petrella oder Caterina Mancini, Mafalda Favero und auch Anita Cerquetti und anderen zum italienischen Standard und nahm besonders viel bei der Radio-Gruppe der RAI auf. Ihre Stimme vergisst man nicht. Ihr herbe-veristisches Timbre ist ein ganz persönliches und expressiv-gestaltendes, wie man auf den vielen Rundfunkaufnahmen hören kann, die bei den verschiedenen Live-Firmen herausgekommen sind – immer noch gibt es viele unveröffentlichte. Ihr Repertoire war enorm und spannte sich vom Barock bis in die Moderne. Und es ist kein Geheimnis, dass wir, die Macher von operalounge.de dieser Stimme noch immer verfallen sind. Umso größer ist die Freude, dieser großen Künstlerin noch einmal in einem Interview zu begegnen, dass Gabriele Bucchi für OperaClick Italien gemacht hat und dass uns diese großzügiger Weise zur Verfügung gestellt haben. Danke an die italienischen Kollegen! Ingrid Wanja war wieder so freundlich, den Text ins Deutsche zu übersetzen. G. H.

Anna de Cavalieri als Tosca/isoldes-liebestod.net

Anna de Cavalieri als Tosca/isoldes-liebestod.net

Anna de‘ Cavalieri empfängt mich an einem wolkenreichen Nachmittag kurz vor ihrem Tod in ihrer schönen, wenige Schritte vom Luganer See entfernten Wohnung. Guten Tag, Signora, ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir dieses Treffen zugesagt haben. Wollen wir mit dem Beginn Ihrer Karriere anfangen?   Ich heiße Anne MacKnight und bin in Aurora (Ilinois) geboren. Meine erste Gesangslehrerin hieß Gladys Gilderoy Scott, die der wichtigste Mezzosopran in der englischen Theatergruppe „Moody-Manners Opera Group“ war. Nach zwei Jahren Studium an der Universität von Illinois bin ich nach New York übergesiedelt, um Musik an der Julliard School zu studieren. Ich war noch sehr jung, gerade 18 geworden, aber sie haben mich aufgenommen, weil sie spürten, dass meine Stimme ein gutes Potential hatte. Ich habe auch ein Stipendium bekommen, so dass ich damit fünf Jahre lang studieren konnte.

War es zu dieser Zeit, dass Sie mit 21 Jahren für die Bohème mit Toscaini engagiert wurden? Ja. Während der Studien an der Juilliard berichtete mir Maestro Willfred Pelletier, der die Opernaufführungen der Schule leitete das Toscanini eine neue Stimme für die Partie der Musetta  in Bohème suche. Man hatte ihn dafür gewonnen, die Oper für NBC zu dirigieren. Also hat Pelletier mir gesagt: „McKnight“ (er nannte mich immer mit dem Nachnamen) „Morgen gehst du zu Toscanini! Kennst du die Arie der Musetta?“ Ich antwortete ihm: “Nein, ich kenne sie nicht, ich singe Aida und Tosca!“ Und er: “McKnight, morgen gehst du zu Toscanini und singst ihm die Arie vor, verstanden?“ So ging ich also zu Toscanini.

Anna de Cavalieri/isoldes-liebestod.net

Anna de Cavalieri/isoldes-liebestod.net

Als ich in den zum Vorsingen bestimmten Saal eintrat, sah ich eine Reihe leerer Stühle und erkannte eine damals bekannte Sopranistin, Virginia McWatters, die zu dieser Zeit Zerbinetta am City Center sang, eine wundervolle Stimme! Ich war die Letzte beim Vorsingen dieses Morgens. Ich setzte mich in ihre Nähe und die McWatters fragte mich, ob wir unsere Reihenfolge in der audizione tauschen könnten. Sie war davon überzeugt, dass sie die Rolle bekommen würde, wenn sie als letzte sänge. Ich sagte ja, weil ich meinte, dass ich nichts zu verlieren hätte. Ich hatte bereits alle meine Unterrichtsstunden am Morgen und sogar das Mittagessen verloren, was mich am meisten ärgerte (sie lacht). Es öffnet sich die Tür der Garderobe und der Sohn Toscaninis, Walter, ruft mich auf… Toscanini hatte keinen Pianisten, er selbst begleitete die Sänger! Im Raum, dem berühmten Studio 8H (in ganz Amerika bekannt als das „Studio von Toscanini“) war ein großer Spiegel, in dem ich Walter sah, der mit dem Vizepräsidenten der NBC, Samuel Chotzinoff sprach. Letzterer zündete sich eine Zigarette an, und kaum hatte ich mit „Quando me’n vo“ begonnnen, fiel ihm die Zigarette aus dem Mund… Da habe ich mir gesagt: „Geh, Anna, das wars.“  Am Ende sagte Toscanini zu mir: „Ihr Italienisch ist sehr seltsam“ ( in Italienisch). Dann ist Walter gekommen und hat mich gefragt: “Kennen Sie die Rolle der Musetta?“ Und ich:“Nooo“ (mit amerikanischem Akzent). „Also lernen Sie sie schnell.“ Normalerweise lernte ich eine Partie in einem Monat. (…) Drei Mal in der Woche ging ich zu Toscanini, die anderen Tage zum Erlernen der Aussprache. Der Maestro brachte mir die Rolle bei, begleitete mich stets auf dem Klavier. Aber wir verstanden einander nicht. Er sprach fast kein einziges Wort Englisch, und ich sprach nicht Italienisch. Vielleicht konnte ich gerade einmal „Spaghetti“ sagen oder ähnliches. Aber das war nicht so schlimm, denn Walter machte den Dolmetscher. Ich erinnere mich daran, dass Toscanini wollte, dass ich das Lachen der Musetta als exakten Gesang anlegte, alle Noten und im vorgeschriebenen Tempo. (…)

Anna de Cavalieri als Norma/isoldes-liebestod.net

Anna de Cavalieri als Norma/isoldes-liebestod.net

Nach der Bohème rief Walter Toscanini mich an, der Meister wolle mich für die Aufnahme von Beethovens Neunter, die wir dann auch gemacht haben. Nachdem ich die Juilliard School beendet hatte, riet mir Toscanini, mich in Italien bei einem seiner Asistenten zu perfektionieren. Davon hatte er fünf, von denen ich drei kennen lernte: Pais, Colombini, Votto. Ich ging also zu Giuseppe Pais, der damals nicht mehr dirigierte (Votto war ja völlig überlastet). Im Sommer 1948 kam ich nach Como, und jeden Tag nahm ich den Bus nach Fermo, um mit Pais in dessen Sommerfrische zu studieren. Er war sehr streng und bemerkte auch den kleinsten Fehler. Auch mein Mann arbeitete mit ihm. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn die Eingangsphrase von Padre Germont („Madamigella Valery“) habe wiederholen hören, es war nie gut genug. Wie bei Toscanini!

Eines Tages hielt in Como ein Rolls Royce neben mir: Walter Toscanini. Jetzt erzähle ich Ihnen einen Vorfall, den niemand kennt. Walter sagte mir dann, dass Toscanini eine Sopranistin suche, die mit ihm in Busseto Lady Macbeth singen sollte. Ich hatte sie bereits studiert und fühlte mich in der Rolle gut. Also fuhr ich zu ihm nach Mailand in die Via Durini, um vorzusingen. Er nannte mir die Daten von Busseto, aber leider war ich da bereits in Bergamo für einige Vorstellungen von Figaro mit Gavazzeni engagiert. Ich nicht in der Lage, eine Vertragsstrafe wegen Vertragsbruch zu zahlen und Gavazzeni abzusagen. Toscanini wurde sehr wütend, und wie Sie wissen, hat er nie mehr eine Oper im Theater dirigieren wollen. Heute bereue ich, nicht zugesagt zu haben. Und leider kam ich später nie zur Lady. Aber ich habe oft die Nachtwandlerszene gesungen, zum Beispiel bei den Concerti Martini e Rossi. Da haben Sie oft gesungen?  Sieben Mal. Und jedes Konzert umfasste vier Arien.

Anna de Cavalieri als Isolde/isoldes-liebestod.net

Anna de Cavalieri als Isolde/isoldes-liebestod.net

Wie ging es mit Ihrer Karriere in Italien weiter? In der Nachkriegszeit waren viele Amerikaner nach Italien gekommen, um sich wie ich zu perfektionieren und sich einen Namen zu machen. Viele junge Italiener hatten wegen des Kriegs nicht studieren können. Die Theater waren schwer beschädigt und deswegen oft noch geschlossen. Oper spielte man vor allem im Sommer auf der Piazza. Ich erinnere mich daran, dass in Lugo oder Pistoia meine Garderobe ein Wäschegeschäft war, während der Tenor und der Bariton sich beim Frisör und beim Fleischer umzogen. ..

Erinnern Sie sich an Ihr Debüt in Italien? Ja, natürlich, es war eine Aida, in Pesaro 1949. Ich wurde mit 25 000  Lire für eine Vorstellung bezahlt. Das war schon viel! Es gab praktisch keine Proben, und oft lernte man die Kollegen erst auf der Bühne kennen.  Nach der Premiere kam der Impresario zu mir und sagte: „Brava! Sind Sie morgen für eine weitere Vorstellung frei?“ Damals war das so. Ich hoffte auf weitere 25 000Lire, stattdessen gab er mir nur 5 000 Lire (der Preis für ein Doppelzimmer und Vollpension im Hotel): also zwei mal Aida für 30 000 Lire, alles inbegriffen. Bei der Premiere debütierte mit mir Aldo Protti als Amonasro in blendender Form. Im dritten Akt, nachdem er gesungen hatte „Dei faraoni tu sei la schiava“ wollte das Publikum ein Bis um jede Preis und ließ es nicht zu, dass die Vorstellung weiter ging. Also musste ich mich wieder erheben und ein zweites Mal zu Boden werfen lassen.. Ah ah!

Anna de Cavalieri als Fedora/isoldes-liebestod.net

Anna de Cavalieri als Fedora/isoldes-liebestod.net

Nach Aida habe ich oft die Gioconda gesungen. In Parma bekam ich für meine Verkörperung dieser Rolle sogar eine Art Oscar. Von dieser Gioconda gibt es aus Neapel eine Live-Aufnahme mit Barbieri und Di Stefano?  Ja, die habe ich gehört. Leider ist die Tonqualität nicht gut. Ich habe schöne Erinnerungen an die Barbieri, mit ihr gab es immer etwas zu lachen. Eine große Stimme und großartige Frau!

Wie bereiteten Sie ihre Rollen vor? Maestro Pais hatte mit mir vier oder fünf Partien einstudiert, die ich für das Vorsingen bereit hielt. Es waren Aida, Tosca, Chénier, Gioconda und Trovatore. Ich lernte neue Partien recht schnell, in etwa einem Monat.  Die Loreley habe ich in meinen ersten Karrierejahren oft gesungen. Ich kann sagen, dass in diesen Jahren Loreley in Italien gleichgesetzt wurde mit Anna de‘ Cavalieri. Ich habe sie in Lucca und auch in den Caracalla Thermen mit Bergonzi gesungen, und natürlich für die RAI.

Wann beschlossen Sie, Ihren Namen zu italianisieren? Zu Beginn meiner Karriere in Italien. McKnight war für das Italien von 1948 zu schwierig. Das erklärt, warum ich mit Toscanini als McKnight erscheine, in Italien aber als De‘ Cavalieri.. Als ich nach New York in das City Center für einige Toscas, für Aida, Don Giovanni (Donna Elvira) und Cavalleria zurückgekehrt bin, habe ich meinen eigentlichen Namen wieder angenommen. Ich war davon überzeugt, dass ich meine Karriere in den USA fortführen könnte. Erster Irrtum von so vielen…

Sprechen wir über Ihr Repertoire. Bedenkt man die relative Kürze meiner Karriere (ungefähr zwanzig Jahre, weil ich 1946 debütiert habe und mich 1967 von der Bühne zurück gezogen habe), habe ich doch einiges an Opern gesungen, mindestens an die fünfzig. Die häufigste Partie war die Tosca. Außer Rondine und Gianni Schicchi  (in Amerika), habe ich in Italien Manon Lescaut ( in San Remo) und Turandot gegeben. Aber die Rolle, die ich auf jeden Fall singen wollte, war die Minnie, für die ich mir schöne Kostüme hatte anfertigen lassen. Aber ich konnte sie nie zeigen, denn wenn man mir die Partie anbot, war ich bereits anderweitig engagiert oder war schwanger.

Anna de Cavalieri als Gioconda/isoldes-liebestod.net

Anna de Cavalieri als Gioconda/isoldes-liebestod.net

In jenen Jahren reisten Sänger oft mit ihren eigenen Kostümen. Vor allem, wenn man die üblichen Mode-Maße sprengte wie ich. Man ließ sich die Kostüme für jene Rollen anfertigen, die man am häufigsten sang. Einmal, 1961, war ich in Rio de Janeiro für eine Turandot und fragte nach, welche Opern sie noch im Repertoire hätten. An den folgenden Tagen gab man Tosca mit der Mancini und Tagliavini. Die Mancini wurde krank und ich sollte sie ersetzen. Nun hatte ich aber kein Kostüm dafür mit dabei, lediglich eins für die Turandot. Ich musste also eine blonde Perücke tragen und normale Kostüme, die mir nicht gut standen. Aber die Kritiker meinten, ich wäre die schönste Tosca, die man in den letzten Jahren erlebt habe, mit oder ohne Kostüm (lacht).

Ich habe als lirico spinto begonnen, habe aber oft auch das dramatische Fach gesungen. In Konzerten gab ich auch Auszüge aus der Walküre (Sieglinde) und besonders Isolde (in Italienisch). Turandot ist eine kurze Partie, aber sehr schwierig und gefährlich, weil dauernd im hohen Register. Das ist nichts für Anfänger.

In Ihrem Repertoire finden wir überraschenderweise auch einige Partien des Belcanto wie die Imogene in Il Pirata bei der RAI 1958 (neuerdings wieder auf dem Markt) und auch die Norma. Norma habe ich zum ersten Mal 1963 am Teatro La Pergola in Florenz mit Anna Maria Rota (Adalgisa) und Gastone Limarilli (Pollione) unter dem Dirigat von Wolf Ferrari gesungen und sie auch in Frankreich wiederholt. Es ist eine sehr schwierige, aber doch faszinierende Partie. Für Konzerte hatte ich auch einige Partien des 18.Jahrhunderts parat, zum Beispiel Alceste  und Armida/e von Gluck, aber sie passten nicht besonders gut zu meiner Stimme. Alceste hört man ja fast immer von einem Mezzosopran, weil die Tessitura für einen Sopran zu tief liegt. Aber aus Freude darüber, eine so edle Musik singen zu dürfen, habe ich sie mit dem größten Respekt davor gegeben. Armide habe wir Französisch für die RAI in Turin unter dem Dirigat des großen Mario Rossi 1958 aufgenommen (und auch die gibt es auf dem Markt).

Sie hatten auch etliche Opern des 20 Jahrhunderts im Repertoire, darunter Cyrano de Bergerac und La Legenda di Sakuntala von Franco Alfano. Kannten Sie den Komponisten persönlich? Ja, ich habe Alfano persönlich gekannt. Er suchte mich nach dem ersten Konzert von Martini e Rossi in San Remo auf und wollte, dass ich die Rolle der Roxane 1954 an der Scala (die ich dann auch sang) verkörpere. Er bestand darauf. Ich ging für eine Woche zu ihm nach San Remo, um die Rolle mit ihm zu erarbeiten. Er war ein eindrucksvoller Mann, zugänglich und sympathisch.

Anna de Cavalieri als Roxana/isoldes-liebestod.net

Anna de Cavalieri als Roxana/isoldes-liebestod.net

Die Titelpartie im Cyrano an der Scala sang Ramon Vinay, ein anderer Sänger Toscaninis. Er war ein schöner Mann, groß und stark. Ein Jammer, dass sie ihm für die Partie diese Nase angeklebt hatten. Welche Ausnahmemusikalität, was für ein wunderbarer Schauspieler! Ich erinnere mich daran, dass er vor dem Singen immer zwei Flaschen Coca Cola trank. Jeder hat so seine Methoden…

Vorhin haben wir gemeinsam Ihre bemerkenswerte Interpretation von „Du bist der Lenz“ aus der Walküre gehört (Konzert Martini e Rossi vom 13. Januar 1958), wo Sie auf Deutsch singen. Wagner auf Deutsch zu singen war selbst im Konzert in diesen Jahren ungewöhnlich, nein? Genau genommen habe ich auch die Isolde, allerdings in Italienisch, in Catania gesungen. Aber in Konzerten sang ich Wagner immer im Original, sei es „Du bist der Lenz“, sei es die Schlussszene aus der Götterdämmerung. Das war für mich nicht schwierig. An der Juilliard School hatten wir Deutsch und Französisch singen gelernt. Gegen Ende meiner Karriere kamen viele Angebote für Wagnerpartien in Deutschland, aber mein Mann war Jude, und die Erinnerung an den Krieg und die grauenhaften Vorfälle waren  noch zu lebendig. Deshalb habe ich nicht zugesagt. Vielleicht war das ein Fehler, denn bei Wagner fühlte ich mich wohl, sei es vom vokalen, sei es vom szenischen Standpunkt her.

Sie haben zwei Rollen von Strauss gesungen, Ariadne (für die RAI unter der Leitung von Peter Maag) und die Marschallin. An der New York City Opera gab ich 1952 zum ersten Mal die Tosca, was nicht gut lief. Der Regisseur hatte seltsame Vorstellungen, und ich konnte damit nichts anfangen. Sie haben mich rausgeworfen! Dann sang ich die Marschallin auf Deutsch, und sie war ein Triumph. In New York hatte ich auch dafür ein Vorsingen bei Bing um 10 Uhr morgens (!), mit „Casta diva“ und der Arie der Abigaille. Leider zog sich Bing aus Gesundheitsgründen vom Management zurück und wurde durch einen neuen Intendanten ersetzt. Addio amerikanische Träume…

Anna de Cavalieri als Loreley/isoldes-liebestod.net

Anna de Cavalieri als Loreley/isoldes-liebestod.net

Kommen wir zu den Kollegen, mit denen Sie gearbeitet haben. Da gibt es einen Mefistofele in Verona 1954, in dem Sie Elena und Maria Callas die Margherita sind; Di Stefano war Faust und Rossi Lemeni Mefistofele. Ich und die Callas haben uns während dieser Vorstellungen nicht oft gesehen, wir sangen ja in verschiedenen Akten. Ich hatte jedoch Gelegenheit, sie einige Male im normalen Leben zu erleben, besonders am Anfang ihrer Karriere, weil wir beide oft an den selben Provinztheatern auftraten. Einmal, so erinnere ich mich, sah ich die Callas in einem Restaurant in Brescia eine Riesenportion an Pasta, Fleisch, Dessert und Wein vertilgen und danach auf wunderbare Weise die Aida singen. Mein Mann und ich fragten uns, wie sie das mit all dem Zeug im Magen schaffte. Vor kurzem kam man zu mir, damit ich mich in einem Interview über die Callas äußere, aber ich hatte da nicht viel dem hinzuzufügen, was bereits vielfach gesagt wurde. An Meneghini habe ich eine lebhafte Erinnerungen. Er war überaus freundlich und machte oft Komplimente in der Garderobe. Und schickte immer Weihnachtsgrüße.

Ich bewunderte Mario del Monaco sehr. Ein wahrer gentiluomo. Wir traten oft gemeinsam in Andrea Chénier auf. Er war ein großartiger Chénier! Die Vorstellungen, die wir gemeinsam 1954 in Neapel unter Maestro Serafin machten, gehören zu den schönsten Erinnerungen meiner Karriere. Als wir am Schluss einer Vorstellung auf den Karren stiegen, umarmte er mich und sagte zu mir: „Die Hälfte meines Erfolges heute Abend habe ich dir zu verdanken“. Chénier habe ich auch mit Franco Corelli in Enghien Les Bains in Frankreich gemacht. Corelli hatte keine Stimmgabel in der Garderobe, und wenn er sich einsang, kam er zu mir und fragte:“ Bis zu welchem Ton bin ich gekommen?“ „Re bemolle“ , und er war zufrieden. Auch mit  Di Stefano bin ich viel aufgetreten. Der war weniger diszipliniert und recht chaotisch. Ich erinnere mich, dass er in San Remo  nicht zu den Proben kam, weil er im Kasino spielte…

Anna de Cavalieri als Trovatore-Leonore neben Mario Filipeschi/www.mariofilipeschi.com

Anna de Cavalieri als Trovatore-Leonore neben Mario Filipeschi/www.mariofilipeschi.com

Mit Lauri Volpi habe ich ein Konzert Martini e Rossi bestritten. Er war ein älterer Künstler, aber noch immer attraktiv und besaß eine Riesenstimme. Zunächst war er etwas pikiert, weil er mit einer Unbekannten zusammen auftreten sollte, aber dann sehr freundlich. Ich erinnere mich an einen Streit zwischen ihm und Serafin. Während einer Probe schlugen sie auf einander ein und rechtfertigten sich, als sie unsere erstaunten Blicke sahen, damit, sie seien alte Schulkameraden. Was für Schläge! Aber sie blieben für immer Freunde.

Ich erinnere mich an Ebe Stignani, eine sehr sympathische Künstlerin, mit der zu arbeiten ein Vergnügen war. Ich habe auch eine aufregende Sängerin gekannt, die sich Casazza nannte (Elvira Casazza, Mezzo-Sopran, Ferrara 1887 – Mailand 1965), sie kam nach einer Aida, um mir Komplimente zu machen und sagte mir eine schöne Karriere voraus. Damals wusste ich nicht, wer sie war, aber sie war oft mit Toscanini aufgetreten, als dieser Maestro an der Scala war. In Catania sang ich mit Gino Bechi in Guglielmo Tell. Eine außergewöhnliche Stimme. Seine Garderobe quoll zudem von  Medikamente und Flüssigkeiten über. Ehe er auf die Bühne ging, spritzte er sich das ganze Zeug in die Kehle und klang dann göttlich. Ich bin auch mit Tito Gobbi in Torre del Lago aufgetreten, in Tosca. Gobbi war etwas distanziert, ein sehr selbstsicherer Mann. Und ich habe eine wunderschöne Erinnerung an Ettore Bastianini und habe geweint, als ich von seinem Tod hörte… Ach, wie viele meiner Kollegen gibt es nicht mehr. Einmal sang ich Tosca in Modena und mich suchte ein (noch sehr schlanker) Luciano Pavarotti auf. Er schenkte mir seine signierte Photographie und meinte, er würde gern mit mir singen. Dazu kam es nicht – ich hörte auf, und er begann seine Karriere. Schade!

Sprechen wir etwas von den Dirigenten, mit denen Sie oft gearbeitet haben. Sie haben Serafin zitiert, der im Ruf stand, ein großer Stimmenversteher  zu sein. Ich kann es kaum ausdrücken, wie sehr ich diesen Mann bewunderte. Das erste Mal war ich seine Aida in der Arena Flegrea. Ich erinnere mich genau, dass er mich nach dem Vorsingen unterhakte und sagte: „Diese Stimme muss geführt werden.“ So fuhr ich mit meinem Mann in die Villa des Maestro in der Nähe von Florenz. Er studierte andere Partien auch mit ihm, so Gioconda, Trovatore, Chénier, Tosca. Serafin bestand darauf, dass der Gesang ausdrucksvoll geriet, dass man die Worte verstand: Für ihn gab es kein „reicht so…“. Er reiste immer mit seiner Schweizer Wirtschafterin Rosina, die für ihn kochte, auch im Hotel. Serafin aß nie mit den anderen zusammen.

Anna de Cavalieri als Alceste/isoldes-liebestod.net

Anna de Cavalieri als Alceste/isoldes-liebestod.net

Ich habe auch gute Erinnerungen an Mario Rossi, einen sehr feinen Musiker. Leider habe ich wenig mit Gavazzeni gearbeitet. Aber ich kann mich daran erinnern, dass er unzählige Male mit mir und der anderen Soprankollegin die Briefszene im Figaro probierte. Zunächst erschien uns das übergenau, aber dann begriff ich, dass wir eine außergewöhnliche Lektion in Interpretation erhalten hatten.

War die Atmosphäre in den Provinztheatern anders als am San Carlo und an der Scala? Außergewöhnlich, vielleicht noch warmherziger als in den großen Theatern. Es wurden Blumen mitgebracht, aber die aus dem eigenen Garten. Die Leute kamen eine Stunde vor Beginn ins Theater und brachten Essen und Trinkbares mit. Sie haben oft auf Freilichtbühnen gesungen: Verona, Caracalla, Arena Flegrea di Napoli. Erfordert das größere Anstrengungen und nicht allgemein verbreitete Begabungen eines Sängers? Was soll ich da sagen. Ich hatte eine kraftvolle Stimme und für mich machte es keinen großen Unterschied. Natürlich herrscht in den geschlossenen Theatern eine größere Konzentration. Ich erinnere mich, dass man mir einmal nach einer Turandot in Messina als Kompliment sagten, man habe mich bis nach Reggio Calabria gehört. Das hat mich natürlich gefreut! Die Claque war eine heimliche, aber unerbittliche Tatsache in den Theatern dieser Jahre… Und ob…Kaum war man am Bahnhof angelangt, waren sie auch schon da und forderten sofort Geld. Sie brachten Blumen, die sie wer weiß wo erworben oder besser gestohlen hatten…Das war nicht schön, und ich möchte nicht darüber reden…

Anna de Cavalieri als Aida/isoldes-liebestod.net

Anna de Cavalieri als Aida/isoldes-liebestod.net

Darf ich Sie nach den Gründen für Ihren vorzeitigen Rückzug aus der Karriere fragen?  Eines Tages hat mein Mann mir gesagt, er sei es müde, der „Signor de’Cavalieri“ zu sein. Von einem Tag auf den anderen machte ich Schluss und wollte von Musik nichts mehr wissen. Ich hörte nicht einmal mehr Radio. 1975 gründete mein Mann zusammen mit einem seiner Musikerfreunde einen gemischten Chor von ca. vierzig Personen hier in Lugano. Eines Abends bat er mich die Mezzosoprane, die etwas matter klangen, zu unterstützen. Er brauchte mich, und nun war ich es, die helfen konnte. 23 Jahre lang habe ich in seinem “Coro laureato“ Musik von Bach, Händel, Monteverdi, Bloch und sogar Bob Dylan gesungen! Ich entdeckte eine neue Welt in der Chormusik und neue Freunde unter den Sängern. Indem ich meinem Mann Fred half, wurde ich von der tiefen Traurigkeit, in die ich nach meinem Rücktritt gefallen war, geheilt. Und welche Rolle hat Ihr Mann Fred Rogosin in Ihrer Karriere gespielt? Er wusste alles über Musik. Er hatte zwei Doktortitel der Harvard Universität, als Bariton war er fünf Jahre lang Solist der Truppe „Glee Harvard Cluv“ gewesenund oft am Klavier Leonard Bernstein begleitet, mit dem er eng befreundet war. Fred war ein richtiger Techniker, mit einem außergewöhnlichen musikalischen Wissen. Eine Zeitlang studierte habe ich bei ihm Vokaltechnik. Er war immer an meiner Seite, beriet mich und verteidigte mich. Er war auch auch mein Manager. Er hat buchstäblich einen Teil seines Lebens meiner Karriere geopfert.

Wollen Sie ein paar Worte an die jungen Sänger von heute richten? An die Sänger im allgemeinen, junge und weniger junge: Zu meiner Zeit gab es die Regel „ sieben Jahre Studium und dann auf die Bühne“. Das heißt sieben Jahre regulären Unterrichts: Technik, Atem, Intonation, Musikalität, Interpretation. Wenn die Gesangstechnik den Künstler trägt, dann kann er die Sterne erreichen! In bocca al lupo!

Besonderer Dank geht an Susanna Toffaloni vom italienischen Website-Opernmagazins Operaclick.com und  Gabriele Bucchi, die uns die Übernahme dieses Interview gestatteten! Ein Besuch ebendort lohnt sich und gibt viele Einblicke in das italienische und internationale Opernleben. Grazie Signori! G. H.

 

Ingrid Wanja übersetzt tapfer und unverzagt aus dem Italienischen für uns - Danke Ingrid!

Ingrid Wanja übersetzt tapfer und unverzagt aus dem Italienischen für uns – Danke Ingrid!

Und im Anschluss noch eine Biographie von der schönen website der Freunde von Isoldes Liebestod: Cavalieri, Anna de, Sopran, * 1926; die Künstlerin war Amerikanerin, ihr eigentlicher Name war Anne McKnight. Sie erhielt ihre Ausbildung in den USA, kam aber in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nach Italien und hatte an den dortigen großen Opernbühnen bedeutende Erfolge; 1953 sang sie am Teatro San Carlo Neapel die Titelrolle in »Turandot« von Busoni, 1956 die Titelpartie in Glucks »Alceste« und wirkte dort 1959 in der Uraufführung der Oper »Pantea« mit. 1954 sang sie an der Mailänder Scala die Rossana in »Cyrano de Bergerac« von Alfano, 1958 die Elena in »Mefistofele« von Boito. 1955 gastierte sie auch an der Oper von Rom in Alfanos »Cyrano de Bergerac«, 1960 als Titelfigur in »Lucrezia« von O. Respighi, 1955 bei den Festspielen in den römischen Thermen des Caracalla in der Titelrolle von Catalanis Oper »Loreley«, 1954 bei den Festspielen in der Arena von Verona als Aida und als Elena in »Mefistofele«, 1957 am Teatro Regio von Parma. 1960 gastierte sie in ihrer amerikanischen Heimat unter ihrem eigentlichen Namen Anne McKnight an der New York City Centre Opera als Marschallin im »Rosenkavalier«. 1961 hörte man sie an der Oper von Rio de Janeiro als Turandot und als Tosca in den beiden Puccini-Opern gleichen Namens. Ihre größten Erfolge hatte sie jedoch in Italien. Dort sang sie 1960 an der Oper von Rom, 1962 in Turin, 1963 am Teatro Grande von Brescia die Mathilde in Rossinis »Wilhelm Tell«. Sie trat u.a. in Piacenza (1961 als Turandot von Puccini), Rovigo, Cremona (1964 als Fedora von Giordano) und noch 1968 in Padua (als Tosca) auf, 1962 am Théâtre de la Monnaie Brüssel, 1964 am Opernhaus von Toulouse als Norma. In Europa wie in Nordamerika hatte sie nicht zuletzt auch als Konzertsängerin eine bedeutende Karriere.

(Mit Dank an Sandro Wilhelm, dem die Seite bei Isoldes-liebestod.net gewidmet ist und der seit vielen Jahren der große Champion für Anna de Cavalieri war, ihm verdanke ich auch ein wirklich schönes signiertes Foto von ihr für meine Diven-Wand! Foto oben isoldes-liebestod.net. G. H.)

  1. Geerd Heinsen Beitragsautor

    wo sie recht haben, haben sie recht – ich war noch nie gut in mathematik und habs natürlich geändert – danke, lieber herr pluta!

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  2. Ekkehard Pluta

    Erst habe ich einen Riesenschreck bekommen. Haben wir wirklich schon 2026 und bin ich zehn Jahre älter als ich glaubte? Aber das war wohl ein Versehen mit dem 100. von Anna de Cavalieri!
    Dennoch vielen Dank für Übersetzung und Abdruck dieses ausgezeichneten Interviews, das auch manche Informationslücken über diese herausragende Interpretin füllt.

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