Auf eine nahezu sechs Jahrzehnte währende Karriere, die extrem frühzeitig begann und extrem spät zu Ende ging, kann die Sängerin Anny Schlemm verweisen, die am 22.Februar dieses Jahres (2014) ihren 85. Geburtstag in Granz beging Und sie passt in kaum ein Schema. Mit 17 Jahren betrat Anny Schlemm in Halle erstmals die Bretter einer Bühne, welche für sie hinfort die Welt bedeuten sollten. Es begann, wie es sich für eine solide Karriere gehört, mit kleinen und kleinsten Partien. Sehr bald reifte das junge Talent zur Sängerdarstellerin und wurde eine Favoritin speziell des Regisseurs Walter Felsenstein.
Nicht zuletzt ihre Boulotte in Offenbachs Ritter Blaubart schrieb Geschichte. Die politischen Entwicklungen lockerten die Kontakte in Richtung Osten (aber doch manche der Darsteller der Komischen Oper waren stets aus dem Westen, seit Beginn über viele Jahre lang), aber nach der “Wende“ kam es noch zu einigen schönen Altersauftritten an der geliebten Komischen Oper (u.a. mit Orpheus in der Unterwelt an der Seite von Jochen Kowalski). Auch in Halle gastierte sie 1996 noch einmal in Rimsky-Korsakows Goldenem Hahn. Mit der Mamma Lucia (Mascagnis Cavalleria) zog sie sich dann von der Bühne zurück, ohne der Öffentlichkeit gänzlich abhanden zu kommen. So gab sie gelegentlich Lesungen in ihrer Geburtsstadt Neu-Isenburg in der Nähe Frankfurts.
Ungewöhnlich früh wurde Anny Schlemm auch zu Plattenaufnahmen herangezogen. In einer Fledermaus-Produktion unter Ferenc Fricsay beim RIAS (nachträglich auf CD veröffentlicht) sprang sie als Zwanzigjährige ein, im gleichen Jahr 1949 (Todesjahr von Hans Pfitzner) wirkte sie auch bei einer Einspielung des ersten Palestrina-Aktes mit, neben Elfride Trötschel, Rita Streich, Margarete Klose und Lorenz Fehenberger; Robert Heger leitete das Orchester der Komischen Oper Berlin, wo Anny Schlemm (neben Frankfurt) ihre künstlerische Heimstätte fand. Dann ging es mehr oder weniger Schlag auf Schlag. Die EMI verpflichtete Anny Schlemm mehrfach, doch zu Hause war sie bei der DG, wo sie u.a. an einer Reihe schöner Opernquerschnitte beteiligt war (Freischütz, Verkaufte Braut, Undine, Mignon, Hoffmanns Erzählungen sowie – wenn auch nur mit einer Arie – Die lustigen Weiber von Windsor). Anny Schlemms Kontakte in die DDR führten u.a. in Dresden zu einer Gesamtaufnahme von Smetanas Verkaufter Braut (1962 unter Otmar Suitner, mit Rolf Apreck als stimmschönem Partner) sowie Gustav Mahlers 4. Sinfonie 1957 unter Leopold Ludwig.
Mit einem Berliner Querschnitt von Leoncavallos Bajazzo (Janos Kulka, 1964) endete die Hochphase von Anny Schlemms Aufnahmetätigkeit. Bedeutsam waren zuvor aber noch Plattenrecitals 1957 in Berlin unter Wolfgang Rennert (Anny Schlemms zeitweiligem Ehemann) sowie unter Herbert Sandberg in Bamberg (1959). All diese Produktionen finden sich mehr oder weniger vollständig in einer sehr eindrucksvollen Edition des Hamburger Archivs für Gesangskunst, welcher ein außerordentlich kundiger Text von Klaus Ulrich Spiegel beigefügt ist. Der Autor macht aus seiner Bewunderung für Anny Schlemm keinen Hehl, lässt aber auch kritische Aspekte nicht unerwähnt.
In Vol. 1 (Oper) ist bei Bachs Kaffee-Kantate und einer Arie aus Der Streit zwischen Phoebus und Pan (Berlin 1950) eine ausgesprochen jugendfrische Stimme zu hören, mit der Anny Schlemm gewissermaßen frisch von der Leber weg singt. Drei Jahre später (Händels Messias unter Hans Schmidt-Isserstedt beim WDR) wirkt der Sopran bereits gereift, besitzt mehr Fülle und Rundung. Das mädchenhafte Timbre blieb der Sängerin allerdings erhalten, so dass die Figuren ihrer Querschnitte glaubwürdig wirken. Dennoch waren schon früh typische Schlemm-Charakteristika festzustellen: bei aller Süße war dem Timbre eine gewisse Herbheit eigen und Spitzentöne gelangen – möglicherweise bedingt durch Tageskondition – nicht immer mit voller Sicherheit. In der Hamburger Edition ist das bereits bei der Berliner Fledermaus feststellbar, auch das Bamberger Verdi/Puccini-Recital (sowohl in der Originalsprache als auch in Deutsch aufgenommen) ist in dieser Hinsicht wie auch stilistisch etwas durchwachsen. Die Desdemona (1959 zusätzlich in Live-Ausschnitten aus der Komischen Oper unter Václav Neumann mit dem intensiven, aber auch problematischen Hanns Nocker) liegt aber ganz auf Anny Schlemms lyrischer Linie, auch die Macht des Schicksals-Leonora (Friedensarie ohne den dramatischen Schlussteil) besitzt Charisma. Amelia (Maskenball) und Aida hingegen wirken, ohnehin etwas burschikos angegangen, leicht grenzwertig. Bei Puccini wirkt das italienische Idiom der Sängerin generell überzeugender. Die Ausschnitte aus der deutschsprachigen Stuttgarter Butterfly unter Ferdinand Leitner (1960, mit Hetty Plümacher und Sandor Konya) bieten also Hörgenuss.
Dass sich in der Stimme von Anny Schlemm schon recht früh Mezzo-Farben ausbreiteten (besonders deutlich bei „Ich halte viel von Etiketten“ aus Lehárs Paganini, WDR 1952), führte bei der Künstlerin in späteren Jahren fast logischerweise zu einem Fachwechsel. Den hatte sich Anny Schlemm ohnehin schon immer angestrebt, weil ihr die entsprechenden Rollen für eine Darstellung grundsätzlich ergiebiger erschienen. In der Hamburger Schlemm-Ediition tauchen mit dem Maskenball, Jenufa und Arabella drei Opern auf, welche diese Entwicklung dokumentieren. Einen forschen Oscar bietet Anny Schlemm in der dem Maskenball-Mitschnitt des WDR vom 15.2.1951, bei dem Fritz Busch am Pult des noch jungen Sinfonieorchesters des Hauses stand. Amelia beim Bamberger Recital wurde bereits erwähnt, die Ulrica erlebt man sehr präsent mit „Re dell’ abisso“ in einer Frankfurter Bühnenaufführung von 1983. An diesem Hause verkörperte Anny Schlemm 1961 auch die Jenufa neben Christel Goltz (Dirigent: Lovro von Matacic). Zur Küsterin kam sie selber in den Jahren, als sie eine festere Verbindung mit dem Niederrheinischen Theater Krefeld/Mönchengladbach einging. Diese Produktion (unter Robert Satanowski) wurde gastweise am 4.9.1973 in Köln gezeigt (und wurde vom Rezensenten erlebt). An diesem Haus wiederholte Anny Schlemm diese Partie 1981 in einer Neuinszenierung von Harry Kupfer. In der Szene „Im Augenblick“ kämpft die Sängerin am Ende mit der Höhe (welche Interpretin, außer vielleicht Leonie Rysanek, hätte das nicht getan?). Wie sie diese Anstrengung aber in Ausdruck ummünzt, ist hinreißend.
Neben Christel Goltz stand Anny Schlemm schon einmal auf der Bühne, nämlich in Arabella von Strauss, 1950 an der Berliner Staatsoper unter Joseph Keilberth. Warum nach dem Duett „Aber der Richtige“ der Beifall nicht „anständig“ ausgeblendet wird, gehört zu den technischen Mankos der Edition. Anny Schlemms höchsteigene Arabella („Mein Elemer“) wird mit dem Radio-Sinfonieorchester Berlin unter Ralf Weikert annonciert. Aber selbst am Ende der „1950er“Jahre wäre der Dirigent noch nicht einmal Zwanzig gewesen. Das Rätsel löst sich, wenn man ein wenig googelt und beim Deutschen Rundfunkarchiv landet. Die Aufnahme leitete Rolf Kleinert, und sie entstand am 27.1.1958, wofür auch die Stimme von Anny Schlemm spricht. Das DRA hat zum 85. Geburtstag der Sängerin etliche ihrer Aufnahmen aufgelistet. Bei dieser Gelegenheit erfährt man weiterhin, dass Anny Schlemm auch beim (Ost)-Berliner Rundfunk sehr aktiv war; viele Arien entstanden unter der Stabführung von Horst Stein wie die der Marzelline aus Beethovens Fidelio. Bei zwei Operetten-Duetten mit Edgar Wählte („Hab‘ nur dich allein“ aus Lehárs Zarewitsch wird von der Hamburger Edition berücksichtigt) lässt das DRA selber Vorsicht walten und gibt das Jahr 1967 als Erstsendedatum, nicht als Aufnahmedatum aus.
Zurück zur Oper. Natürlich können nicht alle veröffentlichten Ausschnitte an dieser Stelle Erwähnung finden. Aber Felix Mendelssohns Loreley sollte als Trouvaille genannt sein. Das erste Finale aus dieser fragmentarischen Oper gehört zu den schönsten romantischen Opernszenen überhaupt und ist doch bis heute relativ unbekannt geblieben. Die WDR-Einspielung von 1956 unter Franz Marszalek (erstaunlicherweise nicht mit dem Sinfonie-Orchester, wie angegeben, sondern mit dem Rundfunk-Orchester des Hauses) ist erstklassig. Die beiden Ausschnitte aus dem Barbier von Bagdad von Peter Cornelius (1951 unter Joseph Keilberth, Nurredin: Rudolf Schock) stammen aus einer Gesamtaufnahme, die nur Dank eines Privatmitschnitts existiert, denn offiziell ist die Einspielung gelöscht. Ähnliches gilt übrigens für Leo Falls musikalisch attraktiven „Süßen Kavalier“, was zur Operette überleitet.
Ähnlich wie ihr häufiger Kollege Rudolf Schock ist Anny Schlemm auf der Bühne nur gelegentlich in Operetten zu erleben gewesen. Ausnahme ist ihre legendäre Boulotte (Ausschnitte aus einer 1963er-Vorstellung der Komischen Oper Berlin unter Karl-Fritz Voigtmann sind in der Edition zu hören). Durch ihre entsprechende Tätigkeit am Rundfunk hat Anny Schlemm zur Operetten-Diva schlechthin werden lassen. Von der RIAS-Fledermaus (nochmals:1949 aufgenommen, nicht 1951) wurde bereits gesprochen. Letztlich müsste von allem die Rede sein, was die Hamburger Edition an bekannten und unbekannten Titeln offeriert. An dieser Stelle wenigstens die Werke, welche erlauben, die vielen Tenorpartner Anny Schlemm zu erwähnen (zugegeben: ein sehr äußerliches Auswahlprinzip). Beim Bayerischen Rundfunk, wo stets Werner Schmidt-Boelcke den Taktstock schwang, war es Rudolf Schock u.a. in Lehárs Schön ist die Welt (1954), Heinz Hoppe in Straußens Cagliostro und Lehárs Wo die Lerche singt (1959). In Falls Geschiedener Frau stand Anny Schlemm mit Karl Friedrich 1953 vor dem Mikrophon, mit Herbert Ernst Groh 1957 in Kálmáns Zigeunerprimas. Per Grundén sang mit ihr ebenfalls 1957 das Traum-Duett aus Offenbachs Schöner Helena. Die Angabe von Wilhelm Schüchter als Dirigent ist im übrigen ebenso in Zweifel zu ziehen wie die Behauptung bei Micaelas Arie aus Carmen, dass unter seiner Stabführung die Berliner Philharmoniker in Bielefeld begleitet hätten). In Berlin (1954 West, Dirigent beim RIAS: Fried Walter) war bei Millöckers Dubarry Horst Wilhelm der Partner Anny Schlemm, in dem Hamburger Vetter aus Dingsda (Künneke) Rupert Glawitsch; am Pult stand hier Wilhelm Stephan. In Köln sang Anny Schlemm häufig mit Peter Anders bis zu dessen Tod 1954 zusammen („Zellers Vogelhändler, Lehárs Paganini).
Der häufigster Partner von Anny Schlemm war aber fraglos der hervorragende und gleichfalls unglaublich vielseitige Franz Fehringer, hauptsächlich beim WDR, wo Franz Marszalek, der „Karajan der Operette“ (AS) fast zwei Jahrzehnte lang für dieses Genre zuständig war. In diese Zeit fällt nota bene auch eine Gasparone-Aufnahme (1956), wo der Bariton Josef Metternich einen seiner nicht sehr häufigen Ausflüge ins Reich der „leichten“ Muse unternahm. Anny Schlemms Zusammenarbeit mit Marszalek endete (sieht man von ein paar Orchester-Liedern ab) 1958 mit dem Letzten Walzer von Oscar Straus. Das Chanson vom „O la la“ demonstriert Operettengesang im besten Sinne: schönstimmig, prägnant, farbig, vielschichtig, mit erotischen Untertönen. Marszaleks besondere Liebe für Leo Fall, Walter W. Goetze und Eduard Künneke führte bei Anny Schlemm u.a. zu prickelnden Aufnahmen aus der Spanischen Nachtigall, Schach dem König und Lady Hamilton. Die Barcarole aus Zauberin Lola ist eine veritable Opernszene, bei der Anny Schlemm die Grande Dame herauskehrt.
Dem Hamburger Archiv für Gesangskunst ist für seine eindrucksvolle Anthologie nachdrücklich Lob auszusprechen. Zwar sind einige technisch Details (etwa leicht ruppige Ein- und Ausblenden) zu monieren, aber der dokumentarische Wert der Edition macht das vergessen. Christoph Zimmermann
Anny-Schlemm-Edition. Vol. 1-2 Oper, Vol; 3-4 Operette; 13 CDs; Hamburger Archiv für Gesangskunst 10494-10497 (www.vocal-classics.com)
Zwei sehr schöne Websites widmen sich Anny Schlemm mit vielen Fotos, zum einen ihre eigene und dann Bach Cantatas Website, lohnenswert! Dank an die Künstlerin und den Autor für die Fotos. G. H.