Bestürzende Diktion…

Die DVD A Recital with Renée Fleming bei der DG hält einen Auftritt der amerikanischen Sopranistin im Wiener Musikverein vom Dezember 2012 fest (102 196). „Vienna at the Turn of the 20th Century“ ist das Motto des Programms, bei dem die Diva von Maciej Pikulski am Flügel inspirierend begleitet wird. Die Liedauswahl vereint fünf Komponisten, beginnend mit Fünf Liedern auf Gedichte von Goethe für Singstimme und Klavier von Hugo Wolf, komponiert 1888. Sogleich im ersten fällt die bestürzend mangelhafte Artikulation der Sängerin auf – ein Mangel, der sich leider fast durch das gesamte Programm zieht. Natürlich gibt es einzelne wunderbare Spitzentöne (so in „Die Spröde“), aber sie fallen heraus aus dem vokalen Gesangsbild. Melancholische Lieder, wo sie die Stimme nachsinnend strömen lassen kann („Die Bekehrte“), gelingen ihr besser. Es folgen Mahlers Rückert-Lieder aus den Jahren 1901/02, die wenige Jahre später in Wien uraufgeführt wurden, in diesem Programm also einen besonderen Stellenwert einnehmen. Hier ist die Intonation nicht immer sicher, steht die Demonstration stimmlicher Qualitäten vor dem Ausdruck. Und der gekünstelte Vortrag bei einigen Titeln („Blicke mir nicht in die Lieder“) stört ebenso wie das oft herzige Lächeln ins  Publikum. Zwei Stücke von Schönberg – „Erwartung“ und „Jane Grey“ – sind ebenso selten zu hören wie Zemlinskys Fünf Lieder nach Richard Dehmel, die 1907 entstanden. Die Sopranistin hat schon frühzeitig eine Affinität zur Klassischen Moderne gezeigt, und so meistert sie auch die beiden Schönberg-Kompositionen überzeugend mit einmal flirrenden, dann herb expressiven Klängen. Zu solchen findet sie auch bei Zemlinsky, riskiert dabei gelegentlich grelle Spitzentöne („Ansturm“), vermag aber gleichermaßen mit träumerischen Gespinsten („Letzte Bitte“) zu betören. Die Lieder von Korngold am Schluss sind ebenfalls Raritäten in den gängigen Konzertprogrammen. Mich überzeugt die Sopranistin hier am meisten – mit dem sinnlichen Klang und der luxuriösen Höhe im „Sterbelied“, dem innigen, emphatischen Ausdruck in „Was du mir bist“, dem nostalgischen Charme in „Frag mich oft“. Die ungewöhnliche Titelauswahl gibt der DVD durchaus ihre Besonderheit, spricht auch für den Mut und das Engagement der Sängerin, sich für unbekanntes Terrain im Liedrepertoire einzusetzen.

Wie stets bei ihren Liederabenden ist die Solistin, von glamouröser  Erscheinung und in wechselnden extravaganten Roben, freizügig mit den Zugaben – von der unvermeidlichen Strauss’chen „Zueignung“ bis zum häufig gewählten und wie stets hinreißenden „Summertime“ aus Gershwins Oper Porgy and Bess. Dazwischen gibt es Mariettas Arie „Glück, das mir verblieb“ aus Korngolds Die tote Stadt in einer Wiedergabe nahe der Vollkommenheit und eine Referenz an das Wiener Publikum mit dem schwelgerischen „I’m in love with Vienna“ aus dem Strauß-Arrangement The Great Waltz.

Bernd Hoppe