Reifes Regiewerk

 

Wohl nicht so recht wusste die rechte Regiehand, die für den Chor, was die linke, die für die Solisten, wollte bei der Inszenierung von Hans Neuenfels für Tschaikowskis Pique Dame in Salzburg 2018. Während den Solo-Sängern eine psychologisch fundierte, bis ins Detail schlüssige und, wenn ungewohnte, dann doch nachvollziehbare Führung zuteil wurde, musste der Chor die vom Regisseur in früheren Zeiten gewohnten Mätzchen erdulden. Dazu gehören in Käfigen auf die Bühne geschobene Kinder, die von den Gouvernanten an Strippen dirigiert werden, während die übervollbusigen Njanjas sich aus dem trüben Geschehen heraushalten. Der Chor der Erwachsenen erscheint, obwohl nur das erste Frühlingslüftchen über die Newa weht, in Badekleidung und mit Schwimmbewegungen, und auch in den Folgeakten sind Einheitskleidung und entstellende Kopfbedeckungen Pflicht. Für diese war Reinhard von der Thannen verantwortlich, aber auch für die Klischeebedienung, was die Solisten anging, die in dicken Pelzen, mit Wallehaar und ebensolchen Bärten und die Wodkaflache in der Hand die Szene bevölkern. Nur Hermann trägt eine knallrote Husarenuniform, die Jacke durchgehend offen und die behaarte Brust zeigend. Das Geschehen spielt sich vor einer grauen Wand ab, vor die mal ein kleines Krankenzimmerchen für die Gräfin geschoben oder auf die für die Liebesszene ein Sternenhimmel projiziert wird (Szene Christian Schmidt). Natürlich dürfen in einer Neuenfels-Inszenierung Tiere nicht fehlen, und so treten hier, nach den Fröschen in Rigoletto oder den Bienen in Nabucco in Berlin, drei wirklich schafsmäßig dümmlich dreinblickende Paarhufer auf und lassen die Schäferszene, bei der Kinder spielen und die Sänger sich konzertant verhalten, besonders farbig werden. Wenn am Schluss des Akts die Zarin als riesiges Gerippe auf der Bühne erscheint, denkt man doch gleich an die Orgie mit einer Vielzahl solcher trüben Gestalten im Rigoletto. Fast nicht weniger ungewöhnlich als die Zarin ist die Gräfin anzuschauen, die eine rote Perücke, ein giftgrünes Kleidchen, rote Schuhe und Handschuhe trägt, gar nicht hinfällig wirkt und in einer der stärksten Szenen Hermann zu verführen versucht, sich, nachdem ihr das nicht gelingt, sich wenigstens den Pistolenlauf (Phallussymbol!) in den Mund steckt. Das ist eine wirklich großartig und den Zuschauer berührend gespielte Szene, die von der fast 75jährigen Hanna Schwarz, auch sehr fein und sehr verinnerlicht im Couplet, gesungen wird.

Bewundern muss man auch den Sänger des Hermann, den amerikanischen Tenor Brandon Jovanovich, der die kraftraubende Partie nicht nur sehr anständig und in allen Lagen gleich präsent, wenn auch nicht mit Ausnahmetimbre singt, sondern atemberaubend gut spielt, sie von Anfang an als vom Wahn Besessener auffasst, den auch die Liebe Lisas nicht kurieren kann.  Diese besitzt in durchgehend Schwarz-Weiß gekleidet eine kühle Ausstrahlung und Evgenia Muravevas  gesunden, kraftvollen und leuchtenden Sopran. Polina ist in Hot Pants Oksana Volkova mit dunkel loderndem Mezzosopran. Mit balsamischem Bariton singt Igor Golovatenko seine schöne Liebeserklärung an Lisa, die jedoch offensichtlich die Vision von mittäglichem Familientisch mit gleich vier Sprösslingen an der Tafel von seiner Seite treibt. Dämonisch bis sarkastisch singt der dunkel gefärbte Bariton Vladislav Sulimskys seine beiden Bravourstücke als Tomsky.  Auch seine Kameraden sind rollendeckend und damit gut besetzt.

Wie immer bei Neuenfels gibt es keine Über- oder Untertitel, umso sprechender sind die Philharmoniker unter Mariss Jansons und schwelgen in Schwermut, Melos und Dämonie (Blu-ray Unitel 801504). Ingrid Wanja