Seit ich 1988 in Bielefeld die hinreißende Ingeborg Schneider als Heliane in Korngolds Oper in der sinnenöffnenden Produktion von John Drew (Bühne Gottfried Pilz) erlebte, wartete ich auf eine Aufführung dieser Oper, die gleiche Begeisterung bei mir wieder auslösen könnte, weder Dortmund noch Gent oder Freiburg erüllten für mich diese Erwartungen, bis die Deutsche Oper Berlin 2018 die lichtmagische Umsetzung (Olaf Winter) dieser üppigen spätromantischen Geschichte von Christof Loy in den zauberhaften Bildern von Johannes Leiacker (Kostüme Barbara Drosihn) 2018 auf die Bühne brachte: in der hinreißenden Titelsängerin neben einem leuchtstrahlenden Tenor und einem wirklich überzeugenden Cast unter Marc Albrecht taten sich da optische und musikalische Wunder auf. Ich neige sonst nicht zu diesen enthusiastischen Ausbrüchen und bin eher für meine scharfe Zunge bekannt. Aber dieses Wunder der Heliane begeisterte viele, viele Besucher und auch mich.
Was für ein Glück, dass die Deutschen Oper Berlin im Verbund mit Naxos diese prachtvolle Inszenierung nun als DVD festgehalten und zum Nach-Sehen herausgebracht hat (2 DVD 2.110584-85). Und auch dies ist ein kleines Wunder, denn die visuelle Umsetzung von Jörg Flisenius hält eben wirklich diesen vorgenannten Eindruck fest – das Bild zieht den Betrachter wieder hinein in dieses wirklich magische Bühnenerleben. Das gibt es selten, und das soll gewürdigt werden.
Nachstehend noch einmal die Hymne des Kollegen Bernd Hoppe auf die Aufführung selbst und ein langer Artikel aus dem Naxos Booklet von dem Korngold-Spezialisten Brendan G. Carroll. Dank an alle, DOB wie Naxos wie auch die gesamte künstlerische Crew. Stefan Lauter
Und nun die Aufführungsbesprechung: 1992 erschien Erich Wolfgang Korngolds Oper Das Wunder der Heliane bei Decca in deren Reihe „Entartete Musik“, denn das Werk des jüdischen Komponisten wurde 1938 von den Nationalsozialisten als „entartet“ deklariert und verboten. Nur wenige szenische Produktionen der 1927 in Hamburg uraufgeführten Oper sind bekannt (2010 gab es eine in Kaiserslautern, vor allem aber die wichtige Produktion von John Dew In Bielefeld mit der bedeutenden Soporanistin Ingeborg Schneider 1988) – umso höher ist das Engagement der Deutschen Oper Berlin zu bewerten, das Stück in einer Inszenierung von Christof Loy vorzustellen. Der Regisseur gilt als Spezialist für Werke des frühen 20. Jahrhunderts im Umfeld der Psychoanalyse und bestätigte seinen Ruf auch bei dieser Arbeit. Im Einheitsbühnenbild von Johannes Leiacker, einem Holz getäfelten Raum von nüchterner Atmosphäre mit sparsamem Mobiliar, inszeniert er schlüssig und mit wachsender Spannung. Zeitlos und vorwiegend schwarz sind die Kostüme von Barbara Drosihn, nur der Fremde trägt einen grauen Anzug. Auf Geheiß des Herrschers, in dessen Land die Liebe verboten ist, soll er sterben, hat er doch das Recht der Menschen auf Glück, Licht und Freude proklamiert. Heliane, die Gattin des Herrschers, erscheint anfangs im strahlend weißen Brautkleid und wird damit zur Lichtgestalt der Handlung. Sie will dem Fremden in der Nacht vor seinem Tod beistehen, gewährt ihm seine letzten Wünsche – ihr Haar und ihre Füße zu berühren, schließlich gar den Anblick ihres entblößten Körpers.
Sara Jakubiak ist mit blonden Haarflechten, eleganter Erscheinung und attraktiver Körperlichkeit optisch eine ideale Verkörperung der Titelheldin und kann die heikle Nacktszene ohne jede Peinlichkeit absolvieren. Ihr Sopran ist sinnlich und farbig in der Mittellage, sicher in der exponierten Region. Sie meistert die große Arie „Ich ging zu ihm“ mit ihren fordernden Aufschwüngen und der hymnischen Steigerung imponierend mit gleißendem, gelegentlich auch etwas herbem Klang. Von verzehrender Intensität und rauschhafter Ekstase sind ihre Duette mit dem Fremden, dessen Aura und Sensibilität sie sich nicht entziehen kann. Brian Jagde singt ihn mit in der Mitte dunkel timbriertem, doch in der Höhe strahlendem und ungemein leistungsfähigem Tenor. Emphatisch ist sein Gesang, von trunkenem Klang die Stimme. Helianes Gatten, den Herrscher, stattet Josef Wagner mit wuchtigen Tönen seines heldischen Bassbaritons aus, dessen schier unerschöpfliche Kraft von überwältigender Wirkung ist. Der österreichische Sänger von imposanter Statur weiß auch die Zweifel und Ängste der Figur zu vermitteln, findet für deren Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung berührenden Ausdruck.
Glänzend besetzt sind die Nebenrollen mit Okka von der Damerau, die der Botin ihren robusten Mezzo mit giftig-tückischen Akzenten leiht, Derek Welton, der den kurzen Auftritt des Pförtners mit seinem markanten Bassbariton aufwertet, Burkhard Ulrich, der dem blinden Schwertrichter mit seinem Charaktertenor greisenhafte Töne verleiht, und Gideon Poppe, der als Junger Mann mit zuverlässigem Tenor aufwartet.
Grandios sind der Chor und Extrachor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: Jeremy Bines), der im 2. und 3. Akt zentrale Szenen der Handlung zu absolvieren hat. Da gibt es die tumultöse Szene der aufbegehrenden Menge, die den Fremden als den „Boten der Freude“ wiederhaben will, oder zu Beginn des letzten Aktes das in Trauer erstarrte Volk, das gleichermaßen auf Helianes Wunderkräfte hofft wie an ihnen zweifelt. Für die gewaltigen Tableaus mit deren unterschiedlichen Stimmungen von Hysterie und Trance bis zur Verklärung bietet der Chor eine enorme gesangliche Bandbreite auf, gipfelnd im finalen Hymnus über Freude, Leben, Freiheit und Glück. Heliane und der Fremde, der sich den Tod gegeben hatte und von ihr zu neuem Leben erweckt wurde, verlassen den Raum und gehen in eine andere Welt.
Am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin zaubert Marc Albrecht rauschhafte Klangbilder von faszinierender Sinnlichkeit. Das Schillern, Flirren und Aufblühen der Musik steht im großen Kontrast zu ihren aufgepeitschten, massiv aufgetürmten Blöcken und dissonanten Bläsersätzen. Aber immer wieder setzen sich schwelgerische Lyrismen und sinnliches Melos durch und erzeugen einen geradezu narkotischen, süchtig machenden Sog.
Der Jubel des Publikums nach der 2. Aufführung am 22. 3. 2018 signalisierte, dass diese exemplarische Produktion der Deutschen Oper bereits jetzt als ein Höhepunkt der laufenden Saison gelten darf. Bernd Hoppe
Dazu der Aufsatz von Brendan G. Carroll: Von all den großen Opern der 1920er Jahre – darunter Puccinis Turandot, Bergs Wozzeck, Strauss‘ Intermezzo, Hindemiths Cardillac und Zemlinskys Der Zwerg – wurde keine mit solch fieberhafter Spannung erwartet wie Erich Wolfgang Korngolds Oper Das Wunder der Heliane.
Grund hierfür war vor allem ein Skandal, den der Vater des Komponisten Julius Korngold, der jähzornige, extrem konservative und vielgefürchtete Chefkritiker der führenden Wiener Tageszeitung, der Neuen Freien Presse, rund um die Premiere anzettelte und in schöner Öffentlichkeit vorantrieb.
Monatelang führte er eine Kampagne gegen den Komponisten Ernst Krenek und dessen sogenannte »Jazz-Oper« Jonny spielt auf, die nach ihrem sensationellen Leipziger Einstand vom 10. Februar 1927 nur wenige Wochen nach Heliane auch in Wien herauskommen sollte.
Julius Korngold, der das Werk verachtete, wollte dies um jeden Preis verhindern. Vergeblich machte er seinen Einfluss auf den damaligen Wiener Operndirektor Franz Schalk, einen alten Freund der Familie, geltend. Die Opernleitung war in akuten Geldnöten, man brauchte einen erfolgreichen Kassenschlager, und Schalk wurde überstimmt. Jonny spielt auf triumphierte. Schalk meinte dazu typisch wienerisch: »Der Vorverkauf übersteigt meine schlimmsten Erwartungen«. Vater Korngold seinerseits setzte unverdrossen seine journalistische Hetzkampagne gegen Krenek fort.
Das Resultat war eine komplette Spaltung der öffentlichen Meinung. Verschiedene Fraktionen bekriegten sich untereinander für und gegen Korngold oder Krenek, eine außergewöhnliche Situation, die das Opernpublikum genauso in den Bann zog wie alle führenden Zeitungskarikaturisten und Cartoonisten der Zeit. Die Österreichische Tabakregie (die spätere Austria Tabak GmbH) beispielsweise brachte zwei „rivalisierende“ Zigarettenmarken heraus: die Jonny (billig und ungefiltert) und die Heliane, eine teure Luxuszigarette mit helllila Papier, exotischem, rosenblütengeformtem Filter in eleganter Golddosenspezialverpackung.
Sechs Jahre arbeitete Erich Wolfgang Korngold an seiner Heliane. Die vollendete Partitur sollte er zeitlebens als sein größtes Werk betrachten. Die Oper, basierend auf dem obskuren Mysterienspiel Die Heilige des wenig bekannten rumänischösterreichischen Dramatikers und Dichters Hans Kaltneker (1895-1919), einem Bewunderer von Korngolds Musik, ist vermutlich das extravaganteste und dramatischste Bühnenwerk des Komponisten.
Die Partitur sieht nicht bloß eine sehr große Chor- und eine ebensolche Orchesterbesetzung vor, bestehend aus drei Flöten, Piccolo, Englischhorn, drei Klarinetten, Bassklarinetten, zwei Fagotten, Kontrafagott, vier Hörnern in F, drei Trompeten in C, drei Posaunen, Tuba, drei Paukengruppen, einen enormen Schlagwerkapparat inklusive einem kompletten Glockensatz sowie zwei Harfen, volle Streicherbesetzung und Gitarre, sondern auch einen Frauenchor hinter der Bühne (als seraphische Stimmen aus der Höhe, die das Geschehen kommentieren) und, ebenfalls aus dem Off, drei weitere C-Trompeten, drei Posaunen und sechs Fanfarentrompeten – alles in allem mehr als hundert Musiker. Die Solistenbesetzung umfasst sechs Haupt- und sieben Nebenrollen.
Das gewaltige Ensemble ist meisterhaft eingesetzt und vereint musikalisch alle Wesensmerkmale von Korngolds reichem, romantischem Stil. Die ausgefallene, hochkomplexe Orchestration wird von nicht weniger als fünf verschiedenen Tasteninstrumenten verstärkt: Klavier, Orgel, Celesta, Harmonium und das selten verwendete Glockenspiel, ähnlich der Celesta, aber eine Oktave tiefer gestimmt. All dies untermauert die elaborierte Post-Strauss’sche Harmonie und sorgt für den typisch Korngold’schen Klangrausch. Diese Partitur behandelt jeden einzelnen Orchestermusiker als Virtuosen.
Die Intensität der Musik mit ihren berauschenden gestaffelten Glissandi- und Arpeggio-Effekten, ihren vorwärtsdrängenden Rhythmen, oftmals unnachgiebigen Tempi und plötzlichen Taktwechseln macht Heliane zu einer der größtmöglichen Herausforderungen für Dirigenten und Ausführende gleichermaßen. Von Akt zu Akt türmen sich die Spannungsbögen und auch für die Zuschauer wird die Oper zu einer musikalischen Überwältigungserfahrung.
Nach der erfolgreichen Uraufführung in Hamburg am 7. Oktober 1927 steigerten sich auch die Wiener Vorbereitungen. Zwei Star-Ensembles waren für zwei Premieren an aufeinanderfolgenden Abenden engagiert.
Die Rolle der Heliane hätte ursprünglich die legendäre Diva Maria Jeritza singen sollen – die erste Wiener Turandot, die bereits mit der Doppelrolle der Marie/Marietta in Korngolds Sensationserfolg Die tote Stadt und in der Titelpartie der Violanta, der zweiten Oper des gerade einmal siebzehnjährigen Komponisten, große Erfolge gefeiert hatte.
Doch das Wiener Premierendatum am 29. Oktober war zu spät angesetzt – die Jeritza war bereits einen Monat zuvor nach New York abgereist, wo sie einen Vertrag mit der Metropolitan Opera hatte. Die Heliane sollte sie auch später niemals singen. Statt ihrer glänzte in der Premiere ihre Erzrivalin, Wiens zweite große Diva Lotte Lehmann, an ihrer Seite ein spektakulär gutaussehender neuer Startenor, Jan Kiepura, in der Rolle des jungen, zum Tode verurteilten Fremden.
In der zweiten Premiere hätte Alfred Piccaver, der zweite führende lyrische Tenor Wiens, den Fremden übernehmen sollen. Doch er hatte die schwere Partie nicht rechtzeitig einstudieren können und sagte einige Tage vor dem anberaumten Termin ab. Die geplante Aufführung fiel aus, es entstand das haltlose, bis heute verbreitete Gerücht vom Misserfolg der Oper (tatsächlich kam das Stück in seiner ersten Spielzeit auf 27 Vorstellungen in Wien und 25 in Hamburg).
Ursprünglich hatten achtzehn Theater verkündet, das Werk auf die Bühne bringen zu wollen. Neun von ihnen blieben dabei – darunter Lübeck, Breslau, München, Plauen, Danzig, Schwerin, Chemnitz und Nürnberg.
Im April 1928 erreichte die Oper Berlin in einer für die frühen Jahre maßstabsetzenden Produktion. Bruno Walter dirigierte eine Starbesetzung mit Grete Stückgold, Hans Fidesser, Emil Schipper und Alexander Kipnis. Die bizarre, surrealistische Inszenierung entwarf Oskar Strnad, einer der größten Bühnenbildner derzeit.
Doch die deutschen Kritiker rächten sich an Korngold Sohn für die Hetzkampagne des Vaters gegen Krenek. Verärgert über dessen Versuche, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, verrissen sie das Werk – und das umso mehr, als der Tenor Fidesser, wie Korngolds Frau in ihren Memoiren schreibt, nach einem Generalprobenkrach mit Bruno Walter seine Partie am ersten Abend absichtlich sotto voce sang und so der Aufführung viel von ihrer Vitalität und Wirkung nahm.
Vielleicht waren die eigentlichen Gründe der Kritikerschelte aber auch Hans Müller-Einigens unglaubwürdiges Libretto und die Tatsache, dass Heliane so gar nicht der neuen herrschenden Mode der »Zeitoper« entsprach – ein Schicksal, das auch Die ägyptische Helena von Richard Strauss ereilen sollte, die später im selben Jahr Premiere feierte.
Das Opernpublikum hatte kein Interesse mehr an Märchen für Erwachsene oder an berauschenden, metaphysischen Liebesgeschichten. Der Trend der »Neuen Sachlichkeit« verlangte nach zeitgenössischen Themen, großzügig versehen mit Jazzinstrumentation. Neuartige Effekte und moderne Menschen, die Radio hörten, schnelle Autos fuhren, auf der Bühne telefonierten und sich in Exzessen aller Arten ergingen, waren der letzte Schrei. Korngolds Oper fiel aus der Zeit.
Bis 1931 war Das Wunder der Heliane fast völlig aus dem Repertoire verschwunden und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahre 1933 wurde Korngolds Musik insgesamt von den deutschen Spielplänen entfernt. Das Wunder der Heliane fiel in Vergessenheit bis die Koninklijke Vlaamse Opera 1970 eine Wiederbelebung beschloss. Doch der Erfolg blieb aus – die große Korngold-Renaissance stand noch bevor und so schleppte sich das Werk weiter voran, bis Bielefeld sich 1988 an eine Inszenierung wagte. Auch hier gab es Probleme mit der Besetzung (der Tenor kapitulierte in der Generalprobe), und die Tatsache, dass das Theater viel zu klein war, um der Oper gerecht zu werden, tat ein Übriges, einen dauerhaften Erfolg zu verhindern.
Verbreitung: 1993 entstand unter der Leitung des Produzenten Michael Haas die wegweisende Ersteinspielung der Heliane, mit der die Decca ihre großangelegte Reihe »Entartete Musik« einleitete (der Titel ist eine Reminiszenz an die berüchtigte Nazi-Ausstellung in Düsseldorf 1938). Der Aufnahme stellte man eine CD von Kreneks Jonny spielt auf, dem ehemaligen Opernrivalen, zur Seite. Die Veröffentlichung wurde ein internationaler Erfolg. Ganz allmählich kehrte die Oper ins Repertoire zurück.
(Dem gingen Aufführungen andernorts wie Gent 1970 voraus, namentlich die erwähnte Aufführung in Bielefeld 1988 setzte neue Maßsstäbe. S. L.) Es folgten konzertante Aufführungen im Amsterdamer Concertgebouw (1995) und der Londoner Royal Festival Hall (2007). Einer Koproduktion des Pfalztheaters Kaiserslautern mit Brünn von 2010 bis 2012 war schließlich größerer Erfolg beschieden und im Januar 2017 brachte eine erfolgreiche konzertante Aufführung Heliane nach 90 Jahren erstmals zurück nach Wien, bevor man das Werk im selben Jahr konzertant in Freiburg und szenisch in Gent aufführte. Im März 2018 schließlich kehrte Heliane nach Berlin zurück. Christof Loys Produktion wurde ein spektakulärer Erfolg.
In deutlicher Anspielung auf Billy Wilders berühmten Film Zeugin der Anklage wurden die unglaubwürdigeren Aspekte der Handlung hier gestrichen oder gemildert, indem man die Handlung in einen nüchternen, mit Eichenholz verkleideten Gerichtssaal verlegte. Der deutliche Schwerpunkt auf die menschliche Tragödie macht Korngolds hyperromantische Musik noch eindringlicher. Kleidung und Frisur der Heliane erinnern an Marlene Dietrich, den Star in Wilders Film. Ihr Ehemann, der boshafte Herrscher dagegen, wird als jämmerlicher, impotenter Mann entlarvt, der sich verzweifelt nach der Liebe seiner Frau sehnt. Jede seiner Handlungen ist von diesem Verlangen bestimmt, und doch bleibt seine sterile Ehe zum Nichtvollzug verdammt. Seine grausamen Taten erhalten auf diese Weise einen effektiven Subtext, der das zentrale Drama sehr viel glaubwürdiger erscheinen lässt.
Der junge Fremde – bei Kaltneker und Müller-Einigen eine seltsame, christusartige Messiasgestalt – erscheint als attraktiver Befreier der unterdrückten Sexualität. Christof Loy hat verstanden, dass es in dieser Oper tatsächlich überall um Sex geht, und zwar speziell um die verwandelnde Kraft der Geschlechtsliebe, die der Unterdrückung und Verdrängung im freudlosen Reich des Herrschers ein Ende macht – ein Aspekt, auf den das originale Libretto nur leise anspielt. Dass der junge Korngold Heliane im ersten Jahr seiner glücklichen Ehe mit Luise Sonnenthal (einen Großteil sogar noch während der Flitterwochen) schrieb, ist in jedem leidenschaftlich erotischen Takt der Partitur zu hören. So hat der Komponist das Werk denn auch nicht von ungefähr seiner jungen Frau gewidmet.
In dieser Oper gibt es nicht nur ein großes Liebesduett, sondern gleich drei, eines pro Akt, und die Arie „Ich ging zu ihm“ (1928 denkwürdig von Lotte Lehmann eingespielt), die Heliane in der Gerichtsszene des zweiten Aktes singt, ist vielleicht Korngolds schönste überhaupt – eine intensive, erotische Liebeserklärung der Titelheldin, deren Worte das Geständnis zugleich leugnen. In der chromatisch aufsteigenden Musik spiegeln sich sexuelle Befriedigung und Erschlaffung auf dieselbe wirkungsvolle Weise wie im berühmten Liebestod in Wagners Tristan und Isolde.
Das eigentliche Thema der Heliane dürfte freilich der Glaube an eine menschliche Liebe sein, deren Kraft den Tod transzendiert und überdauert. Korngold war zutiefst eingenommen von diesem Glauben an eine Liebe über den Tod hinaus: Sein Zyklus der Abschiedslieder und seine Oper Die tote Stadt erkunden ähnliche Themen.
In Hollywood, seinem unfreiwilligen Exil, wandte sich der Komponist 1944 erneut diesem Thema zu. In seiner Filmmusik zu Zwischen den Welten, die er persönlich vor alle seine Filmmusiken stellen sollte, wird der Weg verschiedener Menschen ins Jenseits beschrieben. Zentrum der überarbeiteten Version von Sutton Vanes Schauspiel Outward Bound ist dabei ein junges Paar, das sich das Leben genommen hat, weil es die Trennung nicht ertragen konnte. Die Liebenden erhalten schließlich eine zweite Lebenschance. Bezeichnenderweise zitiert Korngolds äußerst romantische Filmmusik ganz bewusste Stellen aus Heliane – nicht zuletzt die schöne Arie des Pförtners aus dem dritten Akt.
Nach beinahe hundert Jahren in der Versenkung berührt Das Wunder der Heliane das Publikum heutzutage wieder mit seiner überwältigenden emotionalen Durchschlagskraft und seinem grenzenlosen, bitonalen Lyrismus. Vielleicht rührten hierher auch die beispiellosen zwanzig Minuten Ovationen bei der Premiere der neuen Berliner Produktion.
Dank der vorliegenden Aufnahme ist die einzigartige Wirkung der Heliane nun überall und für jedermann nachvollziehbar und die Zukunft des Werkes auf der Bühne scheint endlich gesichert. Brendan G. Carroll, 2018/ Deutsche Übersetzung: Katharina Duda
Der Korngold-Spezialist und Musikwissenschaftler Brendan G. Carroll ist der Autordes Buches The Last Prodigy, das als die definitive Korngold-Biographie gilt (Amadeus Press 1997); die deutsche Übersetzung der revidierten Fassung ist unter dem Titel Erich Wolfgang Korngold: Das letzte Wunderkind erschienen (Böhlau-Verlag, Wien 2012). Wir bedanken uns bei der Firma Naxos und vor allem beim Autor Brendon G. Carroll für die sehr freundliche Genehmigung zur Übernahme des Artikels aus der kürzlich erschienenen DVD-Ausgabe bei Naxos, die eine Aufführung an der Deutschen Oper 2019 wiedergibt.